: Schicksalsort Kommune
Manche glauben, am Sonntag bei den Kommunalwahlen in NRW entscheide sich das Schicksal des Kanzlers, mithin der Republik. Ein Exkurs über das so kleine wie bedeutsame Gemeinwesen
VON HELMUT HÖGE
„Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“. Mit dieser Utopie eines lebendigen Gemeinwesens endet Goethes „Faust II“. Sie findet sich wieder als Inschrift auf der Berliner Stalinallee, die 1962 in Karl-Marx-Allee umbenannt wurde – und bis heute ebenso tot ist wie das Kanalbauprojekt von Faust, dem einst auch noch die letzten drei Menschen weichen mussten (er ließ sie fahrlässig töten) – bevor er als Generalstabsplaner schließlich selbst – in den Armen der Lemuren – verendete.
In einer Weimarer Inszenierung brachte ein Westregisseur seine drei Opfer neulich als ewig „nörgelnde Ostrentner“ auf die Bühne. In Berlin wurde die Kommune allerdings schon 1448 im Keim erstickt: Das geschah, als der brandenburgische Markgraf ein Vermittlungsgesuch des zerstrittenen Bürgertums nutzt, um Besitz und städtische Selbständigkeit an sich zu bringen. Die Bürger einigen sich und rufen die Hanse, der sie damals noch angehören, zu Hilfe – aber vergeblich. Sie verlieren ihre Autonomie und müssen hilflos mit ansehen, wie Friedrich II. 1450 auch noch sein Residenzschloss auf ihre Kosten in der Stadt errichtet (bis heute wird darum erbittert gestritten).
Diese Schmach nennt man seitdem „Berliner Unwille“ – sie ist nicht von architektonischer oder stadtplanerischer, sondern von nationaler Bedeutung: Noch vor der Niederschlagung der Bauern (1525) werden die Städte dem Adel gefügig gemacht. Davon hat sich das deutsche, speziell das Berliner Bürgertum nie wieder erholt: Erst die revolutionäre Arbeiterbewegung setzt 1918 die bürgerlich-rechtliche Demokratie durch. Zu deren Hüterin die Sozialdemokratie bestellt wurde bzw. am Ruder hielt, wie man so sagt.
Den westdeutschen Kommunen haftet seitdem etwas Proletarisch-Wagenburghaftes an, während sie in Frankreich spätestens seit der Pariser Kommune (1871) eher eine Selbstverständlichkeit sind – mit dem Pathos des Allgemeinen. Das komplexe Arbeiterrevier Ruhrgebiet, das zu seiner Verteidigung einmal sogar eine regelrechte „Rote Armee“ aufstellte, die dann freilich von den regierenden Sozialdemokraten blutig zerschlagen wurde, hat die Utopie einer einzigen Kommune entwickelt – aber vor allen Dingen die regionale Wirtschaft mit der kommunalen Verwaltung verquickt.
Selbst noch als langsam die Wende – zum Managen von Besitz – über die Belegschaften hereinbrach, blieb es so, dass verdiente Sozialdemokraten in Aufsichtsräte nachrückten und basismürbe Gewerkschaftsfunktionäre sich zu dynamischen Personalchefs aufschwangen. Es herrschte ein Geben und Nehmen. Die Kommunen sicherten sich Anteile u. a. an den Stromversorgern – jedenfalls bis der forsche Oberbürgermeister Adenauer als kommunaler Verräter auftrat, der den Schlotbaronen Vorteile verschaffte.
Mit dem Umbau des RWE-Konzerns u. a. werden nun auch die letzten kommunalen Besitzstände geschleift. Aber die sozialdemokratischen Gebietskörperschaften geben nicht auf, Taubenzüchtervereine mausern sich zu Widerstandsnestern. Die Gewerke z. B. für die kommunalen Fuhrparks werden nicht einfach privatisiert, sondern zum Entsetzen des Kfz-Gewerbes „umorganisiert“: Jeder Reparaturauftrag wird angenommen – mehrschichtig, bei verlängerten Öffnungszeiten.
Im Ruhr-Postpott gilt noch die alte proletarische Kommunalästhetik: Je hässlicher eine Stadt, desto sympathischer die Menschen. Kommunalpolitisch äußert sich das z. B. darin, dass im Falle einer gut vorbereiteten Protestdemonstration der SPD-Stadtrat für Soziales beim DGB anruft: „Schickt mehr Jugendliche! – damit wir da anständig Präsenz haben.“ Gleichzeitig ruft der SPD-Stadtrat für Inneres bei seinen Kollegen in den umliegenden Städten an und bittet um mehr Polizei: „Es wird Rabatz geben!“ So ist – mit der alten sozialdemokratischen Doppelstrategie – mal wieder allen geholfen. Und im Falle, dass eine Kommunalwahl ansteht, kennt man hinter den aufgestellten Charaktermasken die Personen noch sozusagen persönlich.
Obwohl das Kollektiv jetzt mehrheitlich nicht mehr ein Leistungsteam, sondern eher eine Leichtlohngruppe oder eine Drückerkolonne ist. Inzwischen begreift sich Ganz-NRW als eine Kommune, und die Betriebe in denkmalgeschützten Gebäuden gar als „global player“. Zusammen bilden sie eine „Modell-Region“ im Umbau. Obzwar man eigentlich nicht genau weiß, zu was eigentlich? Aber so genau will man das vielleicht auch gar nicht wissen. Interessant ist eher, dass die WAZ-Gruppe gerade politisch stark angegriffen wird wegen des auch bei ihr eingebürgerten Hangs zur Doppelstrategie – dies geschieht jedoch weit weg: bei ihren neuen polnischen und ungarischen Zeitungserwerbungen.
Aus diesen und anderen Gründen sind die Wahlen auch plötzlich nicht mehr so bundesentscheidend, wenn man den politischen Kommentatoren glauben darf – d. h. sie da abholt, wo sie gerade stehen.
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