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Archiv-Artikel

Der Text-Appetizer: Liebende Frauen

Etwa so lang und winterlich, mindestens so spannend und anregend sollten die Geschichten des taz-Winter-Schreibwettbewerbs sein

VON D. H. LAWRENCE

Der Schnee war so schön, wie er nur sein konnte; Gerald hatte eine weite, einsame Fahrt gemacht von einem Grat zum andern und war nun so hoch hinaufgekommen, daß er in etwa acht Kilometer Entfernung auf der Paßhöhe die halbverschneite Marienhütte sah und darüber weg noch den Blick in das tiefe, tannendunkle Tal hatte. Er konnte den Heimweg über die Hütte nehmen – bei der Aussicht, wieder nach Hause zu kommen, schüttelte er sich, man konnte auf Skiern da hinunterfahren auf die alte Kaiserstraße, unterhalb des Passes. Auf die Straße, wozu! Er wollte den Gedanken nicht denken, daß er wieder in die Welt zurückmüßte. Immer hier ob im Schnee bleiben! Hier war er glücklich, wenn er ganz allein auf seinen Skiern über weite Strecken dahinsauste, und die schwarzen, schneegeäderten Felsen im Fluge nahm.

Es wurde ihm eisig ums Herz. Die sonderbar demütige, unschuldige Stimmung der letzten Tage verflog, bald mußte er wieder den fürchterlichen Stürmen und Qualen zur Beute fallen.

So hielt er widerstrebend auf das Gasthaus zu, das unten im Kessel zwischen den Bergkuppen lag, und kam an, schneeverbrannt und fremd. Er sah den gelben Schein der Lichter und zögerte. Wenn er doch nicht hineinzugehen und den Leuten dort wieder unter die Augen zu treten brauchte! Er fürchtete die unruhigen Stimmen und scheute sich vor der verwirrenden Gegenwart der Menschen. Er fühlte sich von ihnen abgesondert, als läge ein leerer Raum um sein Herz, oder eine Schicht reines Eis.

Als er Gudrun erblickte, empfand er es wie einen Stoß. Sie sah sehr großartig und stolz aus, wie sie sich mit langsamem Lächeln verbindlich mit den Deutschen unterhielt. Plötzlich packte ihn ein jähes Verlangen, sie zu ermorden. Was für eine Erfüllung aller Lust müßte das sein! Den ganzen Abend war sein Geist fern, der Schnee und seine Leidenschaft hatten ihn den Menschen fremd gemacht. Der Wunsch verließ ihn nicht wieder. Immer von neuem kam ihm ein Vorgefühl der Wonne, sie zu würgen, bis kein Funken Leben mehr in ihr zuckte und sie ganz regungslos, ganz weich, gelöst für immer, tot unter seinen Händen lag. Dann war sie ewig sein, unveränderlich, der letzte, höchste Genuß.

Gudrun merkte nichts von dem, was ihn bewegte, er schien ihr ruhig und liebenswürdig wie immer. Ja, bei seinem liebenswürdigen Wesen erwachte ihre ganze Grausamkeit.

Sie ging in sein Zimmer, als er beim Auskleiden war. Der sonderbar heitere Glanz reinsten Hasses, mit dem er sie ansah, entging ihr völlig. Sie stand an der Tür und hielt die Hände auf dem Rücken.

„Ich habe es mir überlegt, Gerald“, sagte sie mit beleidigender Lässigkeit, „ich gehe wohl nicht wieder nach England zurück.“ – „So? Wohin denn?“ Sie überhörte seine Frage. Sie hatte sich ihre Erklärung Punkt für Punkt zurechtgelegt.

„Ich sehe nicht ein, was es noch für einen Zweck haben könnte“, fuhr sie fort. „Zwischen uns ist es aus …“

Sie machte eine Pause, damit er etwas sagen sollte. Aber er schwieg. Er redete nur stumm mit sich selbst: „So, ist es aus? Das scheint mir auch so. Aber zu Ende ist es noch nicht. Vergiß das nicht. Wir müssen noch irgendeinen Schluß machen. Ein Abschluß muß sein, sonst ist es nicht zu Ende.“ So sprach es in ihm. Laut sagte er nichts, kein Wort.

„Was gewesen ist, ist gewesen“, fing sie wieder an. „Ich bereue nichts. Du hoffentlich auch nicht …“ Sie wartete, ob er nicht etwas sagen würde. – „Oh, ich bereue nichts“, sagt er verbindlich. – „Nun also. Um so besser. Dann macht sich keiner Gedanken, und alles ist, wie es sein muß.“ „Wie es sein muß“, sagte er ohne jeden Sinn.

Sie machte eine Pause, um ihren Faden wieder zu finden. „Unser Versuch ist mißglückt. Aber wir können es ja noch einmal probieren, anderswo.“ – Leise zuckte ihm die Wut in den Adern. Es kam ihm vor, als wollte sie ihn aufpeitschen. Warum? „Versuch?“ fragte er. „Was für einer?“ „Nun … Liebesversuch, scheint mir.“ – Ein bißchen verwirrt kam es heraus. Wie doch alles gewöhnlich wurde, wenn sie davon sprach! „Unser Liebesversuch ist mißglückt?“ wiederholte er laut. Inwendig sagte er: „Ich muß sie umbringen. Mir bleibt nichts anderes übrig.“ Ein überschweres Begehren, sie zu ermorden, wurde Herr über ihn. Sie ahnte nichts davon.

„Meinst du nicht? Nennst du dies etwa einen Erfolg?“ – Wieder zuckte es ihm wie Feuer durchs Blut bei der Beleidigung, die in ihrer dreisten Frage lag. „Ein paar Bedingungen zum Erfolg waren wohl da. Es – hätte einer werden können.“ Doch hielt er inne, ehe er den letzten Satz zu Ende gesprochen hatte. Schon als er anfing, glaubte er nicht daran. Nein, es wäre nie etwas daraus geworden.

„Nein“, sagte sie. „Du kannst ja nicht lieben.“ „Und du?“ – Ihre großen düstern Augen waren fest auf ihn geheftet wie zwei finstre Monde. „Ich habe nur dich nicht lieben können“, sagte sie in starrer, kalter Aufrichtigkeit.

Blendend schlug der Blitz ihm ins Hirn, er schlotterte am ganzen Körper. Sein Herz schlug Flammen, das Bewußtsein war ganz in den Handgelenken, in den Händen. In ihr war nur noch die unaufhaltsame blinde Gier, sie zu ermorden. Die Handgelenke wollten ihm bersten, er könnte nur Ruhe finden, wenn er sie zwischen den Fingern hätte …

Aus D. H. Lawrence: „Liebende Frauen“, 1927