: Zwittrige Sanglichkeiten
Das nötige Quäntchen Poltergeist fehlte: Mitsuko Uchida mit Beethovens letzten Klaviersonaten in der Musikhalle
Mitsuko Uchida hat viele Leben. In Tokio ging sie zur Schule, in Wien studierte sie Klavier, in London wurde sie weltberühmt. Sie geht leicht und gerade über die Bühne mit wehendem Schwarzhaar, zeitlos, als könne sie nie alt werden. Oder als wäre sie nie jung gewesen. Am Mittwochabend spielte sie in Hamburg Beethovens letzte drei Klaviersonaten. Und es schien, als wäre dem Teil des Hamburger Publikums, der in der Lage ist, die Eintrittspreise des Veranstalters Funke zu bezahlen, selbst die Musik des alten Beethoven schon zu weit entfernt vom wohlig-würdig ausgetretenen Pfad der Gewohnheit. Die Musikhalle jedenfalls war kaum halb gefüllt.
Die eröffnende E-Dur Sonate op. 109, vorwegnehmend zwittrig schubertisch-chopinesque Sanglichkeiten, mag da noch durchgegangen sein. Sie hat schöne Adagio-Stellen und als solche erkennbare Variationen. Aber die drei Sonaten, die sich wie eine einzige spielen und aneinander fügen wie ein Riesenbau, dessen nächstes Stockwerk erst vom jeweils vorigen aus erkennbar wird, werden unvertrauter, je tiefer sie gehen.
Uchidas Stärken, ihr an Mozart und Schubert bewährter Intellekt und die Kultiviertheit ihres Spiels, erweisen sich bei Beethoven zugleich als Hemmnis. Denn mit seinen letzten Klaviersonaten – wie auch Streichquartetten – hat der Bonn-Wiener Klassiker tradierte Formen zerbröselt und erschüttert in nicht nur anrührend melancholischen und zärtlich larmoyanten, sondern auch in vielen cholerisch dramatischen Gesten und Figuren. Das dafür nötige Quäntchen Poltergeist geht Uchidas Noblesse nun freilich ab.
Das Scherzo der As-Dur Sonate op. 110 nahm sie übers Allegro moderato hinaus mit prestissimohaft zerklüfteter Heiterkeit, die Fuge mit gelassener Übersicht. Aber dem Brio des Beginns von op. 111 und gänzlich der Aria fehlten die Kanten und die Schärfe des nahezu verzweifelten Witzes, mit dem Beethoven hier noch einmal zeigt, wie weit er bereits weg ist von den doppelten Böden der Konvention. Allenfalls in den engelhaften Schönheiten und ausgeklügelt kostbaren Traurigkeiten der Musik hörte man am Ende noch, was für eine fabelhafte Pianistin Mitsuko Uchida doch ist.
STEFAN SIEGERT