: Eine Motte von dunkler Herkunft
Die Kastanienminiermotte ist weiterhin in Europa auf dem Vormarsch. Zahlreiche Forscherteams suchen nach einer effektiven Methode zur Bekämpfung des gefräßigen Insekts. Vermutlich werden wir auch in Zukunft mit der Motte leben müssen
von BARBARA KERNECK
Myriaden winziger Organismen verlassen im Zuge der Globalisierung ihre angestammten Plätze, kleben sich auf Trittbretter oder harren unter Deck ihrer Stunde. Vieles spricht dafür, dass die Verbreitung der Rosskastanien-Miniermotte durch moderne Verkehrsmittel erfolgte. Die meisten Lebewesen, welche es in ein fremdes Ökosystem verschlägt, sterben dort ab. Nicht so diese Motte Cameraria ohridella.
Seit 1985 die ersten Exemplare des goldfarbenen, kaum einen halben Zentimeter langen Kleinschmetterlings am mazedonischen Ochridsee gesichtet wurden, hat er ganz Mitteleuropa erobert. Jetzt setzt er zum Sturm auf Skandinavien, Frankreich und die Ukraine an.
Trotzdem geben die Nachrichten von der deutschen Miniermotten-Front Anlass zu Optimismus. In den meisten Städten unseres Landes melden die Gartenbauämter: Die Weißblühenden Kastanien mit dem wissenschaftlichen Namen Aesculus hippocastanum hätten den Sommer 2003 trotz seiner Hitze und Trockenheit besser überstanden als den vorhergehenden. Und noch eine gute Nachricht: nach neuesten Erkenntnissen sind die mottenbefallenen Bäume selten vom Tode bedroht.
Doch die vielen Haufen mit gesammeltem Kastanienlaub sind keine Lorbeeren zum Daraufausruhen. Die Miniermotte ist bereits heute zum unausrottbaren Bestandteil unserer Fauna geworden. Sie wenigstens in ihre Schranken zu weisen, diesem Ziel dient seit zweieinhalb Jahren das EU-Projekt „Controcam“ (Control of Cameraria). Wissenschaftlerteams in ganz Europa untersuchen dabei Möglichkeiten, dem Schädling zu Leibe zu rücken.
Welche Methoden dabei vorerst ausscheiden? Vor allem der Sprüheinsatz von Häutungshemmern, zum Beispiel Dimilin oder Niemöl. Das Sprühen erwies sich als zu aufwändig und zu teuer, zudem sind die Folgen für die Umwelt noch unzureichend erforscht. An der Münchner Fachhochschule Weihenstephan experimentiert man zur Zeit mit Bodeninjektionen ähnlicher Wirkstoffe – analog zu den Anti-Blattlaus-Stäbchen, die wir in die Erde unsere Zimmerpflanzen stecken. Allerdings werden alteingesessene Insekten auf diesem Wege mitgeschädigt.
Mehr versprechen sich Chemiker von der gerade erst begonnenen Suche nach dem entscheidenden Faktor, welcher der Rotblühenden Rosskastanie, Aesculus carnea, ihre Immunität gegen die Miniermotte verleiht. Dieser Baum wird zwar mit Eiern belegt, die Junglarven sterben auf ihm aber überwiegend ab.
Ein Team vom Institut für Chemie und Biologie der tschechischen Akademie der Wissenschaften arbeitet an neuartigen Fallen mit den Sexuallockstoffen der Mottenweibchen, so genannten Pheromonen. Mit den heute gebräuchlichen Pheromon-Klebefallen weist man den Flugverlauf der Tiere nach. Sie taugen aber nicht dazu, die Zahl der Falter wirksam zu dezimieren. Ebenfalls in Prag bastelt man an allerhand Motten-Verwirrspielen, um die Männchen mit großen Pheromonwolken in die Irre zu führen. Noch ist eine breitere Anwendung solcher Verfahren unbezahlbar.
Die größte Hoffnung im Kampf gegen die Miniermotte verkörpern heute ihre natürlichen Feinde, vor allem so genannte Parasitoide. Dies sind Insekten, die ihre Eier in oder an die Räupchen der Falter legen. Die werden dann von den neuen Larven aufgefressen. Tatsächlich gibt es bei uns winzige Schlupfwespenarten, die sich gut und gerne von den Larven der Miniermotte ernähren könnten. Da aber die Motte für sie ebenso neu ist wie für uns, erscheinen ihnen die Kastanien noch immer als relativ uninteressant.
Sven Bacher vom Zoologischen Institut der Universität Bern hat deshalb in diesem Sommer versucht, sie mit der Nase auf ihr Glück zu stoßen. Im vergangenen Winter lagerte er Kastanienlaub in Behältern ein, die mit feinen Netzen versehene Öffnungen besitzen. Deren Maschen waren zu dicht, um Miniermotten durchzulassen, aber durchlässig für die ebenfalls in diesen Blättern lebenden, noch winzigeren Schlupfwespen.
In einem Pilotversuch in Basel hängten Bacher und seine Mitarbeiter mit Kastanienlaub gefüllte Tonnen in die Kronen von Kastanienbäumen. Die aus ihnen entweichenden Schlupfwespen legten prompt ihre Eier in die dort im Inneren der frischen Blätter ihre Minen bohrenden Mottenlarven. Von denen fielen so nicht, wie bisher, fünf Prozent den Parasiten zum Opfer, sondern 10 bis 15 Prozent. Bacher ist zuversichtlich: „Wiederholen wir den Vorgang mehrere Jahre, können wir die Parasitierungsrate wesentlich erhöhen.“
Außer auf die rein mechanische Konzentration der Schlupfwespen hofft Bacher darauf, dass sie sich „prägen“ lassen, wie andere Schlupfwespenarten. „Sind solche Wespchen einmal auf einer bestimmten Baumsorte geschlüpft“, berichtet er, „ziehen sie auch zur Eiablage Raupen auf dieser vertrauten Baumsorte vor.“ Das Suchverhalten der Schlupfwespe ist allerdings noch unzureichend erforscht.
Anders das Suchverhalten der Entomologen. Das richtet sich inzwischen auch auf die Urheimat der Miniermotte. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei dem Tier um eine plötzliche Mutation handelt. Die meisten Wissenschaftler glauben aber, dass sie irgendeiner geografischen „Quelle“ entschwebt ist, und zwar nicht in Mazedonien. In den dortigen natürlichen Kastanienwäldern sind nämlich auch nur fünf bis zehn Prozent der Miniermottenlarven von Parasiten befallen. In der natürlichen Heimat solcher Insekten existiert aber gewöhnlich auch ein eingespielter Feindkomplex, der für eine höhere Dezimierungsrate sorgt.
Hätte man den Ursprungsort der Motte erst einmal gefunden, könnte man nach genauer Prüfung Parasitoide von dort nach Mitteleuropa einführen. Als mögliche Wirtsbäume kommen unseren Kastanien ähnliche Wildarten in den USA, China, Japan und im westlichen Himalaya vor. Nicht ausgeschlossen sind Bestände in Zentralasien.
Mark Kenis vom Westschweizerischen Biozentrum CABI hat der Motte bisher in China und Japan nachgespürt – ohne Erfolg. Möglicherweise müssen Wissenschaftler mit diesem Ziel noch jahrzehntelang durch die Weiten Nordamerikas oder Kirgistans durchstreifen – Hand in Hand mit einheimischen Medizinmännern.
Die simple Wahrheit lautet: das möglichst vollständige Einsammeln des Kastanienlaubes im Herbst bleibt als Methode zur Miniermotten-Bekämpfung vorerst unschlagbar. Nur durch die entsprechenden Aktionen im Herbst 2002 wude der Befallsdruck für die innerstädtischen Bäume im laufenden Jahr merklich gesenkt. Ist die erste, im Frühling schlüpfende Mottengeneration stark dezimiert, kann es den Bäumen nicht mehr schaden, wenn im Sommer noch zwei weitere Generationen nachwachsen. Wo dagegen die Herbstblätter nicht einfach entfernt werden konnten, in Gegenden mit viel Unterholz, waren die Bäume bereits Ende Juni bis in die Spitzen verbräunt.
Rolf Kehr von der Biologischen Bundesanstalt (BBA) in Braunschweig nennt folgende Faustregel: „Kommt die Kastanie halbwegs grün durch den Juli, geht sie mit guten Nährstoffreserven in den Winter. Dem Baum ist es dann egal, wer im Herbst noch an seinen Blättern frisst.“ Niemand hält es aber für eine schlechte Idee, beim Laubsammeln nicht die gesamte Biomasse zu verbrennen, sondern einen Teil davon zur Zucht der darin vorhandenen Schlupfwespen zu nutzen.
Mittelfristig hätten dann die Aufklärungskampagnen der Wissenschaftler unter diesen heimischen Parasitoiden eine Chance. Und wer sagt denn, dass nicht eines Tages der eine oder andere potente Gegenspieler der Miniermotte aus ihrer, wo auch immer gelegenen, Urheimat zu ihren neuen europäischen Weidegründen findet – ganz ohne bewusstes menschliches Zutun?