piwik no script img

Archiv-Artikel

42,195 Kilometer Sinnsuche

Marathon ist wie Pilgern in Joggingschuhen, das Ziel am Brandenburger Tor ein läuferisches Santiago de Compostela

Marathon bietet ein Ventil: erst durchs bloße Ankommen, dann durch gute Zeiten

Es ist diese eine Frau neben dem Verpflegungsstand in Wilmersdorf. Die nicht wie die anderen am Straßenrand klatscht, sondern den Kopf schüttelt und laut fragt: „Warum machen die das?“ Ja, warum? 30 Kilometer liegen zu diesem Zeitpunkt schon hinter den rund 36.000, die an diesem Sonntag den Marathon laufen, 42,195 Kilometer durch Berlin. Am Wettkampf allein kann es nicht liegen. Für den Sieg kommt kaum ein Dutzend Läufer in Frage, die zu diesem Zeitpunkt schon lange im Ziel sind. Paul Tergat, der vergangenes Jahr hier Weltrekord lief, ist nicht dabei, dafür andere Spitzen-Kenianer.

Ja, warum? Wieso ist auf der Laufrunde am Schlachtensee immer wieder das Gleiche verzerrte Gesicht auf 15 Kilo Übergewicht zu sehen? Wieso quält der sich so? Nur um abzunehmen? Das geht auch angenehmer. Bei Läufen wie an diesem Sonntag und beim Training gibt es viele Erklärungen zu hören. Stressabbau, Marathon als großes Lebensziel, stundenweise Flucht vor Entscheidung, Suche nach Lösungen fernab der eigenen vier Wände.

Das klingt nicht nach Sport. Das klingt nach Sinnsuche – und nach Pilgerschaft. Das Marathonziel 300 Meter östlich vom Brandenburger Tor als läuferisches Santiago de Compostela, dem Ziel des Jakobswegs. Rennen statt wie Bestsellerautor Paolo Coelho und viele Tausende jährlich auf diesem Weg durch Nordspanien zu pilgern. Ablass und Vergebung durch Zieleinlauf? Wenn Lächeln ein Zeichen für Erlösung ist, passt der Vergleich. Dieselben Gesichter, die bei Kilometer 37 noch bestenfalls hochkonzentriert, oft aber auch ausgemergelt bis schmerzverzerrt unterwegs sind, werden sich sich im Ziel entspannen.

Nicht alle. Manche Schmerzen sind so groß, dass auch aufmunternde Worte der vielen netten Helfer sie nicht übertünchen können. Auch das ist nicht anders in Santiago de Compostela. Wenn endlich nach dem letzten Teilstück die Morgenmesse in der Kathedrale erreicht ist, sind auch nicht gleich jede Blase, jede überbelastete Sehne vergessen.

Auf dem Jakobsweg sind es nette Herbergsbetreuer, die Pilger einem langen Tag aufmuntern. Auf der Marathonstrecke sind es neben den Helfern die Hunderttausenden am Straßenrand. Wie in den Jahren zuvor stehen auch diesmal alle paar Kilometer Bands. Türkischer Rock am Kottbusser Tor, Samba am Wilden Eber im Südwesten.

Markus Meier ist ein ein unauffälliger Mann in den Vierzigern. Meier gibt es nicht wirklich. Er ist ein bestimmter Typus an diesem Tag. Marathon ist Psychotraining für ihn, stärkt das Selbstbewusstsein. Gerade bei Nieselregen wie an diesem Sonntag. Um beim nächsten Anschiss durch den nervigen Chef denken zu können: Du Arsch würdest doch schon auf den ersten Kilometern abschmieren.

Das lässt Meier trainieren. Viel trainieren. Genau wie Albert Schulte (Name geändert). Fünfzig ist er, Familie hat er, im Job kommt gutes Geld rein. Aber karrieremäßig geht es erst mal nicht mehr weiter, der immer vorhandene Ehrgeiz läuft ins Leere. Marathon bietet ein Ventil. Beim ersten Mal durchs bloße Ankommen, danach durch immer bessere Zeiten. Ein dritter Typ: Der gerade Vater Gewordene, der sich zeigen will, dass auch mit Kind noch was geht.

Wenn die Linden eine kilometerlange Zielgerade sind, dann ist das Brandenburger Tor der Eingang in ein Jubelstadion. Erstmals stehen Tribünen auf den letzten 300 Metern. Das Ziel. In Santiago de Compostela gibt es am Ende der Pilgerschaft eine lateinische Urkunde. Beim Berlin-Marathon kriegt jeder eine Medaille. Die fühlt sich schwer an, gewichtig wie der Erfolg dieses Tages. Und plötzlich ist auch einer der so unerreichbaren Spitzenläufer ganz nah – ins Metall ist Paul Tergats Kopf geprägt. Und jetzt? Nach Ablass und Erlösung in Joggingschuhen? Weiterlaufen. Wer nach Santiago pilgert trifft auch Leute, die schon sechs-, siebenmal auf diesem Weg unterwegs sind. Und nächstes Jahr am letzten Septembersonntag ist wieder Berlin-Marathon. STEFAN ALBERTI