: Gewalt ist ewig menschlich
Verstümmelungen, Häutungen, Leichenschändung – en detail und stolz geschildert: In der Antike waren Chronisten wenig zimperlich, wenn sie von Kriegen berichteten. Waren Schlachten früherer Tage gewalttätiger? Ein Gespräch mit dem Historiker Martin Zimmermann anlässlich all der technisierten oder archaisch anmutenden Kriege, die noch immer geführt werden
Interview GERO GÜNTHER
Martin Zimmermann, 43 Jahre, ist Professor für alte Geschichte an der Universität München. Der Historiker forscht über historische Landeskunde in der Türkei, die Akkulturation in der griechisch-römischen Antike, seit langem auch, so sagt er, „über extreme Formen physischer Gewalt im Altertum in Bild und Text“.
taz: Was können Sie uns über den normalen Gewaltalltag in antiken Gesellschaften berichten?
Martin Zimmermann: Man lebte in einer Welt von Gewalttätigkeit – was unmittelbar einleuchtet, wenn man an die Tierhetzen, Gladiatorenspiele und Hinrichtungen in Rom denkt. Aber auch die griechische Poliswelt im 5. und 4. Jahrhundert vor Christus war von Bürgerkriegen geplagt, bei denen es zu regelrechten Massakern kam. Man hat in einer antiken Siedlung der klassischen oder hellenistischen Zeit Gewalt ganz anders kennen gelernt als heute und musste damit entsprechend umgehen. Der antike Krieg war Handarbeit. Da man mit Nahwaffen wie Schwert, Speer oder Dolch kämpfte, war man unmittelbar mit dem Gegner konfrontiert.
Wie kann man heute das Ausmaß an Gewalt bestimmen?
Es gibt beispielsweise Versuche, den Alexanderfeldzug als einen Strom von Blut, der gen Osten fließt, zu rekonstruieren. Aus den spärlichen Nachrichten der antiken Historiographie, in der oft nur summarisch das Kampfgeschehen zusammengefasst wird, versucht man die Abläufe, vor allem die Folgen der Gewalt, zu rekonstruieren.
Sind genaue Zahlen zu ermitteln?
Nein, aber man kann sich ungefähr das Grauen vorstellen, wenn man beispielsweise liest, wie entsetzt die Griechen über die Gewalt der Römer waren. Ihre unglaubliche Brutalität zeigte sich in Feldschlachten, aber auch bei der Eroberung von Städten – zumal sie verbreiten ließen, dass nach ihrer Einnahme nichts mehr am Leben sein würde.
Gab es denn keinerlei Regeln? Galt etwa Vergewaltigung als rechtens?
Vergewaltigung von Feinden wurde nicht als illegitime Gewalt verstanden. Nur innerhalb der eigenen Gesellschaft wurde sie geahndet. Es gibt Hinweise, dass im Kriegsfall Massenvergewaltigungen von Frauen stattgefunden haben, und es gibt auch viele Zeugnisse für einen Aspekt, der relativ unbekannt ist: dass in der griechischen Welt die gegnerischen Männer strafvergewaltigt wurden, um sie zu erniedrigen. Meist wurden sie anschließend getötet.
Gab es also gar keine Regeln?
Doch, die gab es schon. Sie lassen sich sogar zu einer Art Kriegsrecht rekonstruieren. Man muss sich viele der Kriege sehr schlicht vorstellen. Zwei kleine Ortschaften mit oft nicht mehr als tausend Einwohnern streiten sich beispielsweise um Land. Wenn man sich nicht einigen kann, werden hundert Männer geschickt, die dann um das Landstück kämpfen. Dabei gibt es vielleicht Tote. Aber man versucht, das Aufeinandertreffen zu reglementieren. Ein klarer Sieger ist zu ermitteln. Die Toten müssen geborgen werden, wofür unter Umständen ein Waffenstillstand vereinbart wird. Geregelt wurde allerdings nur der Beginn und das Ende des Krieges. Dieser selbst war nichts als ein schrecklicher Kampf auf Leben und Tod – und zwar mit allen Mitteln.
Das klingt ja noch nach einem einigermaßen zivilisierten Verfahren.
Das ist es im Prinzip auch gewesen, wenn sich die Konflikte zwischen Nachbarorten und innerhalb eines Kulturkreises abspielten. Neue Probleme tauchen seit Alexander dem Großen, vor allem in hellenistischer Zeit, auf. Das war, als riesige Heerzüge, bestehend aus Söldnern, die im Kampf keine Bindung an eine Heimatgemeinde haben, in den Krieg zogen.
Existierten in der Antike Skrupel?
Die gab es, ja, und Tötungsscheu. Schon in der „Ilias“ wird der Krieg als etwas Schlechtes verstanden. Aber wenn er einmal ausgebrochen ist, dann ist das Töten oberste Pflicht des Helden, dessen Wert sich danach bemisst, wie viele Gegner er getötet hat. Daraus entsteht ein großer Unterschied zur Darstellung der Gewalt in der Moderne. Heute zeigt man extreme Formen physischer Gewalt nicht, wenn man sie selbst ausübt, sondern nur wenn man sie erleidet. Erst das Leid legitimiert die Gegengewalt. Die selbst verübte Brutalität wird hingegen nie im Bild thematisiert. Das war früher anders. Ein römischer Ritter, der sich einen Schlachtensarkophag herstellen lässt, legt Wert darauf, dass sein Bild umgeben ist von Leichen, die er selbst produziert hat.
Erfolgreiche Gewaltausübung als Qualifikation sozusagen.
Ja, nur der Sieg und das Töten des Feindes legitimierte politisch Herrschaft. Die Sieghaftigkeit und die Fähigkeit, Gewalt in extremer Form auszuüben, befähigt überhaupt erst dazu, Verantwortung zu übernehmen. Aber das ist natürlich ziemlich bekannt. Interessanter ist, dass in der antiken Literatur immer wieder sehr grausame und detaillierte Berichte auftauchen, in denen Eingeweide, Blut, Eiter, ja Horrormotive eine große Rolle spielen.
Gab zu zu diesen Motiven und zu ihrer Verbreitung keine Forschung?
Nein, kaum, deshalb habe ich begonnen, gerade solche Stellen, die die Grenze zum Ekel überschreiten, zu sammeln. Betrachtet man diese Horrormotive näher, dann stellt man sehr schnell fest, dass sie sehr gezielt eingesetzt werden. Sie sollen in der Regel bestimmte politisch-historische Aussagen, die die Autoren treffen wollen, untermauern.
Das ist ja bis heute ein großes Thema in der Geschichtsschreibung und aktuell wieder, wenn es darum geht, was man in den Fernsehnachrichten zeigen darf und was nicht.
Diese Diskussion wird vermutlich, ausgetragen mit den immer gleichen Argumenten, bis in alle Ewigkeit geführt werden. Haben explizite Gewaltdarstellungen dokumentarischen Charakter? Darf man mittels Gefühlserregung auf das politisch Wesentliche hinweisen? Setzt man diese Bilder nur ein, um Zuschauer zu gewinnen, die sich an solchen Dingen delektieren?
Deutlich wurde diese Instrumentalisierung von Nachrichtenbildern ja besonders in den jugoslawischen Kriegen.
Ja, in diesem Fall haben Politiker ihre politischen Entscheidungen mit Fernsehbildern von Granatanschlägen auf Zivilisten begründet. Und die Fernsehsender haben gesagt, man müsse diese Bilder zeigen, um der Welt die Augen zu öffnen. Dahinter steht aber immer eine ganz bestimmte politische Zielrichtung und eine politische Bewertung der Situation. Deshalb sagen Puristen wie der Historiograph Polybios: Wir müssen uns auf die nüchterne Analyse beschränken, die Affekte dürfen keine Rolle spielen. Und Thukydides, der den Peleponesischen Krieg als ersten Weltkrieg der Geschichte schildert, hat in seinem Geschichtswerk ganz gezielt nur zwei besonders entsetzliche Episoden ausgewählt. Die antike Literaturkritik griff ihn dafür übrigens heftig an. Es hieß: „So ein hervorragender Historiograph, aber ich möchte doch die Frauen und die Kinder schreien hören.“
Horror hat ja auch gewisse Entertainmentqualitäten.
Selbstverständlich. Entsetzliche Details sollen auch unterhalten. Ein Beispiel sind die Kaiserbiografien des Sueton mit vielen aus medizinischer Sicht unmöglichen Grausamkeiten. Er möchte Entsetzen hervorrufen, aber auch mit farbenfrohen Schilderungen Vergnügen bereiten. Aus diesem Grund spritzt schon in der „Ilias“ das Gehirn, fallen Eingeweide auf den Boden und kullern die Augen aus dem Kopf.
Solche Beschreibungen haben ja auch immer etwas Skurriles, zuweilen fast schon Humorvolles.
Und manchmal ist es sehr schwer zu verstehen, was diese Berichte wirklich bedeuten. Pomponia, zum Beispiel, die Schwägerin Ciceros, soll nach der Ermordung des Politikers und der Schändung von Ciceros Leiche – Kopf und Hände waren an die Rednertribüne genagelt worden – den Verräter bestraft haben. Phililogus, ein Freigelassener ihre Manns, wurde von ihr gezwungen, sich eigenhändig Fleisch von seinen Gliedmaßen zu schneiden, es zu grillen und anschließend zu essen. Was macht man mit so einer Geschichte? Wie ist sie zu verstehen?
Vielleicht wird das Grauen in solchen Übertreibungen gebannt.
Das ist eine gute Möglichkeit zur Erklärung dafür, dass man das Grauen hier so auf die Spitze getrieben hat. Aber seltsam ist es schon, dass die Führungsschichten, für die solche Texte bestimmt waren, so etwas lesen wollten. Wir Althistoriker versuchen uns immer Brücken zu den antiken Zivilisationen zu bauen, um sie verstehen zu können. Dabei werden sie oft unserer Welt ähnlich, aber im Grunde sind sie uns fremd und in vielem unverständlich.
Gerade das Fremde, das Unzugängliche und Geheime fasziniert aber auch heute noch.
Wobei es viele aktuelle Parallelen gibt, zum Beispiel die Ermordung der nepalesischen Königsfamilie. Kein Mensch weiß, was da wirklich passiert ist. Daher lesen sich die Zeitungsberichte wie antike Schilderungen vom Sturz eines römischen Kaisers. Man hat in beiden Fällen kaum Chancen, hinter die Kulissen zu blicken. In solchen Fällen ist eine nüchterne Analyse nicht mehr möglich, weil der Zugang zu den Informationen fehlt oder weil die Informationen unüberschaubar geworden sind.
Dann kann man kaum noch zwischen Tatsachen und Gerüchten unterscheiden. Wie es ja auch im ersten und zweiten Irakkrieg der Fall war.
In der Antike spielt das Gerücht eine ganz entscheidende Rolle. Das Gerücht über Tote, über Folter und über Gewaltexzesse. Das lässt sich gut am Beispiel des Kaisers Tiberius nachzeichnen. Er hatte sich auf die Insel Capri zurückgezogen. Keiner konnte sehen, was auf dieser Insel passierte. Also unterstellte man dem ungeliebten Tiberius unbeschreibliche Grausamkeiten. Aus politischen Gründen versuchte man immer wieder, Gegnern Gewaltexzesse in die Schuhe zu schieben. Dies zeigt beispielsweise eine Episode, die sich in Syrakus zugetragen haben soll. Ein Mann lief dort nackt und blutüberströmt durch die Straßen und schrie, der von den Bürgern geachtete Stadtherr Dion versuche, eine Tyrannis zu errichten und er selbst sei das erste Opfer. Ärzte untersuchten seine Wunden und kamen zu dem Ergebnis, dass die Wunden nicht schwer genug seien. Nein, ein Tyrann nimmt doch kein Messer, der nimmt ein Schwert. Es gibt auch eine sehr interessante Ansprache von einem römischen Feldherren an seine Soldaten. In diesem Text werden erst die Übergriffe der britannischen Bevölkerung gegen die Römer geschildert. In seiner Ansprache schildert der Offizier diese Ereignisse dann noch einmal, wobei er kein Horrorbild auslässt. So ist von abgeschnittenen Brüsten die Rede, die man den Frauen in die Münder gesteckt habe. Grausamste Zuspitzungen, um die Soldaten zu motivieren, mit aller Kraft reinzuschlagen.
Ist es nicht interessant, dass man angesichts des hohen Levels alltäglicher Gewalt überhaupt die Energie aufbringt, noch Grauen zu verspüren?
Anscheinend gibt es eben doch anthropologische Konstanten, was die Scheu vor dem Töten und die vor Gewalt überhaupt angeht. Dass man sich während der militärischen Auseinandersetzungen im Rausch befunden hat, hindert nicht daran, unendliches Entsetzen über die Leichen zu verspüren, die nach einer Seeschlacht im Wasser schwimmen. Die ja übrigens alle mit hohem Aufwand geborgen werden mussten.
Könnte man sagen, dass gerade das Grauen etwas Beruhigendes hat? Gerade das Gruselige spricht dafür, dass es einen inneren Widerstand gegen die bestialische Gewalt gab?
Ja, wenn ein bestimmter Bereich von Gewalt verlassen wird, dann besteht Konsens darüber, dass dies abzulehnen ist. Es gibt im Thyestesdrama von Seneca, das ja von Durs Grünbein neu übersetzt wurde, eine faszinierende Szene. Artreus überlegt, wie er seinem Bruder Thyestes wirklich schaden kann. Sein Gefolgsmann schlägt vor: Du nimmst ein Schwert und haust ihn nieder. Daraufhin Artreus: Du redest von Tod, ich rede von Qualen. Ich will ihn leiden sehen. Ich will den Horror, den Horror! Ich will ihn über das Alltägliche, über das Akzeptable hinaus quälen. Dieses Drama, das einen mythischen Stoff behandelt, ist vor dem Hintergrund der Erfahrungen eines Kaisers Caligula entstanden. Dem unterstellte die Senatsaristokratie, dass er den Bereich der akzeptablen Gewalt verlassen hat und sich ein Reich geschaffen hat, „das nicht mehr ein menschliches ist“. Und dadurch bekommt die Tragödie ihre politische Valenz. Hinrichtungen werden nicht in Frage gestellt. Aber wenn jemand einen Tisch aufstellt, sich ein Festmahl zubereiten lässt und vor dieser Szenerie hinrichten lässt, dann werden Grenzen überschritten.
Solche Geschichten kennt man ja auch von aktuellen Herrschern.
Genau. Dem nordkoreanischen Machthaber Kim Jong Il, beispielsweise, wird unterstellt, dass er während der Mahlzeiten hinrichten lässt. Wie geht man mit einer solchen Nachricht um? Ist das ein literarischer Topos oder macht er das wirklich? Ist es sozusagen in der menschlichen Natur angelegt, dass man im Besitz uneingeschränkter Macht genau diese grausigen Dinge tut? Was wissen wir eigentlich wirklich über Kim Jong Il? In der Zeit hat man derartige Nachrichten aus der Weltpresse einmal unter dem Titel „Der neue Caligula“ zusammengestellt. Das las sich wie Sueton, die römische Kaiservita. Ein ähnlicher Fall ist der frühere Diktator Ugandas, Idi Amin, über den berichtet wurde, er habe Offizieren ihre Kinder als Mahlzeit vorgesetzt. Kannte er das Thyestesmotiv oder war dies nur denen geläufig, die entsprechende Gerüchte verbreiten wollten?
Über Saddam Hussein gibt es ja auch diese ganzen Geschichten.
Man weiß auch in diesem Fall oft nicht genau, ob es sich um Topoi des Erzählens von Gewalt handelt – oder ob das Erzählte tatsächlich vorgefallen ist. Ich denke, dass es eine Mischung ist. Auch heute nähert man sich Gewaltherrschern wie Saddam Hussein so, wie man es seit der Antike gemacht hat. Man findet immer die gleichen Erklärungsmuster. Sie sollen Diktatoren kommensurabel machen. Ähnliches lässt sich in der Kriegsberichterstattung beobachten. Bei Untersuchungen über Kriegsberichterstattung hat man festgestellt, dass Kriegsreporter das Chaos des Krieges nicht in den Griff bekommen. Und was machen sie? Sie wählen Erzählmuster, die ihnen vertraut sind. Ähnlich verhält es sich bei der Schilderung von den Herrschern: goldene Wasserhähne, goldene Toiletten, Gefangene, Folter, besondere Hinrichtungspraktiken. Es sind immer die gleichen Dinge, obwohl das Grauen, das mit diesen Menschen verbunden ist, unendlich viele Facetten hätte. Aber sie sind so entsetzlich, dass man nicht darüber berichten kann. Da ist dann beim Rezipienten ein Punkt der Aufnahmefähigkeit überschritten, von dem an er nicht mehr bereit ist mitzugehen.
Solche Dinge tauchen dann bei uns nicht mehr in den Nachrichten auf.
Wie dieses Foto von John Nachtwey von einem Soldat, dem man die Gesichtshaut abgezogen hat. Oder ein weiteres Beispiel aus Afrika: Nachdem Rebellen in Liberia den Präsidenten Samuel Doc gefangen genommen hatten, wurde er kastriert, gefoltert – und das Ganze auf Video gebannt. Diese Videos kann man dort jetzt noch kaufen.
Eine Form der Gewaltausübung, bei der es offenbar um die Erniedrigung des Toten geht.
Ja. Mehr noch: In bestimmten kriegerischen Regionen Afrikas werden Därme über Straßen gespannt, um sie abzusperren. Dinge, über die man nicht mehr berichten kann. Der Alltag von Gewalt und die Vielfalt von Gewalt sind so entsetzlich, dass sie nicht vermittelbar sind. Und das, was an Gewalt vermittelt wird, rekapituliert im Grunde genommen immer ähnliche Gewaltmuster, die verstehbar sind.
Und dieses Repertoire an heute noch gültigen Gewaltmustern existiert schon seit der Antike?
Diese Motive ziehen sich als eine sehr lange Spur durch die historischen Texte. Nehmen wir als Beispiel den Topos „Herrscher tritt Schwangere zu Tode“. Kambyses, der Perserkönig, hat das gemacht, Periander, der Tyrann in Korinth, und dann angeblich Nero. Ausgerechnet ein Autor wie Tacitus sagt: Ich hab’ mir die unterschiedlichen Versionen, die im Umlauf sind, angeschaut, ich hab’ mir genau überlegt, welche die wahrscheinlichste ist. Der Fußtritt ist die Version, für die ich mich entscheide. Er weiß natürlich, dass es sich um einen Topos handelt, um ein altes Motiv. Im 19. Jahrhundert hat ein Autor angenommen, dass Homer Militärarzt gewesen sein müsse, weil er Verletzungen so detailliert beschreiben konnte. Aber wenn man sich die Verse genau anschaut, ist das ein ganz bestimmtes Repertoire an Toden – womit die Vielfalt der Grausamkeiten in eine begreifbare Ordnung gebracht wird.
Sprich: Solange ich als Autor ein Sortiment an Gewaltbildern zur Verfügung habe, kommt der Leser damit klar. Ansonsten wird es zur schieren Bedrohung.
Und nimmt Züge des Skurrilen an – wird dann beliebig, austauschbar, aussagelos. Ein Topos zeichnet sich dadurch aus, dass er viele Dinge bündelt. Die Darstellung des individuellen Todes ist einfach zu speziell, kann die Gesamtsituation nicht verdeutlichen.
Wir haben jetzt sehr viel über Konstanten geredet. An der grundsätzlichen Gewaltbereitschaft und bestimmten Formen des Umgangs mit Gewalt und ihren Darstellungen hat sich demnach nicht viel verändert.
So ist es. Man kann das auch noch pessimistischer sehen, wie der Soziologe Wolfgang Sofsky, der die These aufgestellt hat, dass die Kultur oder die gesellschaftliche Ordnung sogar diese extremen Formen der Gewalt hervorbringt. Je stärker die Ordnung ist, desto stärker drängt dieser Wunsch, mit Gewalt die Regeln zu durchbrechen. Wir Mitteleuropäer gehen oft irrtümlich davon aus, dass bestimmte Arten der Konfliktführung überholt sind. Sofsky jedoch sagt: Nichts ist überholt, es wird sich immer wieder und wieder wiederholen. Es gibt auch keinen Anlass zu glauben, dass wir aus einer gewalttätigen Zeit zu einer gewaltfreien fortgeschritten sind. Wir haben bei uns zurzeit eine stabile politische Gesamtsituation, aber das kann schneller kippen, als wir das für möglich halten.
Die Ruhe ist also trügerisch?
Wenn wir als Kollektiv das Gefühl hätten, von einem anderen Kollektiv bedroht zu werden, wenn man uns erzählen würde, was für Bestien diese anderen sind und was die möglicherweise mit unseren Frauen und Kindern machen oder schon gemacht haben, dann sind wir zu allem bereit. Man kann von Peter Handke halten, was man will, aber er hat natürlich irgendwo recht, wenn er auf seine etwas verschrobene Art und Weise den Finger auf das Jugoslawienproblem legt: Den Serben, den ihr in den Medien schildert, dieses blutrünstige Monster, diesen Autoschieber in deutschen Großstädten, das ist nicht der Serbe, dem ich begegne, wenn ich durch das Land reise. Ich sehe das Mütterchen, das die Karotten aus dem Boden zieht.
Demnach wäre die Entrüstung über die Gräuel auf dem Balkan falsch.
Nein, nein. Man muss sich nur dessen gewahr werden, dass man selbst auch zum Tier werden kann. Wir sollten nicht so tun, als hätte das mit uns als Menschen nichts zu tun.
GERO GÜNTHER, 37, lebt als freier Autor und Journalist in MünchenLITERATUR von Martin Zimmermann: Kaiser und Ereignis, Studien zum Geschichtswerk Herodians, C. H. Beck, München 1999, 344 Seiten, 80 Euro; Gregor Weber/Martin Zimmermann (Herausgeber): Propaganda – Selbstdarstellung – Repräsentation im römischen Kaiserreich des 1. Jahrhunderts nach Christus, Steiner, Stuttgart 2003, 354 Seiten, 92 Euro