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Archiv-Artikel

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Für Hörende ist Kira Knühmann-Stengel die Einblendung unten auf dem Bildschirm – wenn man das „heute-journal“ bei Phoenix anschaut. Für Gehörlose hätte die ganze Sendung ohne sie keinen Sinn. Die Gebärdendolmetscherin ist ein Star in der eingeschworenen Gehörlosen-Community, zu der in Deutschland über zwei Millionen Menschen gehören. Ein Portrait

von ANJA MAIER

„Haben Sie sich nun am Geschlechtsteil gekratzt oder haben Sie onaniert?“ Auf die Frage des Richters bleibt der Angeklagte stumm. Konzentriert schaut er seine Dolmetscherin an. Die hebt ihre Hände, deutet ein Kratzen, deutet Onanieren an, zieht fragend die Augenbrauen hoch. Der Angeklagte, klein und schlank, bekleidet mit Jeans und Trainingsjacke, schüttelt den Kopf, bewegt die Hände.

„Nein, nein, ich habe mich nur gekratzt“, sagt Kira Knühmann-Stengel. Die Gebärdendolmetscherin übersetzt an diesem Vormittag am Essener Landgericht den Fall des tschetschenischen Asylbewerbers Anzor G., 27. G. wird beschuldigt, sich am 1. September 2002 im Kaiser-Wilhelm-Park zu Essen am dort gelegenen Spielplatz in exhibitionistischer Weise gezeigt zu haben. Zwei Frauen haben die Polizei gerufen, ihn angezeigt.

Dass er seinerzeit auf das entrüstete Schimpfen der Zeugin Cornelia D., 41, nicht reagierte, hat seinen Grund. Der Mann ist gehörlos.

Viel wird deswegen in seiner Verhandlung auch nicht geredet. Die Zeugenaussagen, Fragen von Richter, Staatsanwältin und Verteidiger, Einlassungen des Beschuldigten – alles wird für G. noch einmal „gebärdet“. Am Ende des sich hinziehenden Hin und Hers – die Zeuginnen sagen übereinstimmend gegen Anzor G. aus, der entschließt sich in letzter Minute zu einem Geständnis – spricht der Richter das Urteil.

Kira Knühmann-Stengel hebt drei Finger, vollführt mit der Hand eine Halbkreisbewegung nach vorn, deutet Gitter an, hebt wieder drei Finger, beschreibt einen langen Halbkreis.

Sie signalisiert: drei Monate Haft, zu drei Jahren Bewährung ausgesetzt.

Die Verhandlung ist geschlossen.

„Das Urteil ist hart, aber okay“, erklärt Knühmann-Stengel nach der Arbeit auf dem Weg aus dem Gericht. „Noch besser beraten aber wäre der Mann mit einem Bewährungshelfer.“ Und wegen seiner besonderen Situation: „Natürlich noch mit einem Gebärdendolmetscher dabei.“

Sie muss es wissen. Denn das Leben der 38-Jährigen mit dem starken Make-up und der lauten Stimme dreht sich um Gehörlosigkeit, beruflich und privat. Von ihren fünf Kindern ist eins gehörlos, sie ist verheiratet mit einem früh ertaubten Mann, seit vielen Jahren Gebärdendolmetscherin, heute freiberuflich. Sie muss gut sein. Im Fünfminutentakt klingelt ihr Handy. Ständig nimmt sie Aufträge an – und lehnt auch einige ab. Kein Termin mehr frei.

Knühmann-Stengel bildet am nordrhein-westfälischen Landesinstitut für Gebärdensprache Dolmetscher aus, übersetzt gegen ein Stundenhonorar von vierzig Euro Belegschaftsversammlungen, Theateraufführungen, Betriebsausflüge, Gerichtsverhandlungen, alles, wofür man sie bucht. Und an fünf Tagen im Monat gebärdet sie im Nachrichtensender Phoenix „Tagesschau“ und „heute-journal“.

Auch deshalb ist Knühmann-Stengel ein bekanntes Gesicht in der deutschen Gehörlosencommunity, zu der mehr als zwei Millionen Menschen gehören. Im dicht besiedelten Nordrhein-Westfalen leben viele von ihnen. Sie sind eine eingeschworene Gemeinschaft, wollen es auch sein.

„Gehörlose bleiben gern unter sich. Klar, sie wollen am gesellschaftlichen Leben beteiligt werden. Aber das, was Nichtbehinderte unter Integration verstehen, lehnen die meisten ab“, erzählt sie im Auto auf dem Weg nach Hause. „Gehörlose sehen sich nicht als behindert an, sie verstehen sich als sprachliche Minderheit. Die Heimat der Gehörlosen sind die Gehörlosen selbst.“

Und was ist ihre Heimat, als Mittlerin zwischen den Welten, Ehefrau eines Gehörlosen, Mutter eines gehörlosen Kindes? Durch ihre Arbeit und den Job ihres Mannes als Leiter des Landesverbandes der Gehörlosen Nordrhein-Westfalen hat das Paar Freunde aus beiden Lagern. „Trotzdem sind meine besten Freunde Hörende, aber das ist wohl eher Zufall.“

Oder auch beruflich bedingt? „Zu manchen Gehörlosen – meist sind das ja Kunden – versuche ich auch eine gewisse professionelle Distanz zu wahren.“

Seit 1996 Charlotte Links Film „Jenseits der Stille“ in die Kinos kam – die anrührende Geschichte der hörenden Tochter gehörloser Eltern –, hat sich die gesellschaftliche Akzeptanz von Gehörlosen gewandelt. Das Bild von den feinsinnigen, liebevollen Outlaws griff Platz, wo die Wahrnehmung gestikulierender, grimassierender Menschen vorherrschte. Ein nicht hoch genug einzuschätzender PR-Schub für die Belange Behinderter.

Doch so authentisch viele Aspekte dieses Lebens abgebildet wurden: „Der Film“, sagt Knühmann-Stengel, „hat auch romantisiert. Wenn Nichtbehinderte mit dieser Sicht der Dinge sich Gehörlosen näherten, wurden sie oft enttäuscht.“ Die Gründe sind ernüchternd: „Erstens weil die Betroffenen gar keinen Kontakt zu Hörenden wünschten. Und zweitens: Viele Gehörlose sind relativ ungebildet.“

Kein Wunder. Erst seit 2002 Bundestag und Bundesrat das Bundesgleichstellungsgesetz verabschiedeten, haben Behinderte in Deutschland einen gesetzlichen Anspruch auf Chancengleichheit. Die Ausgleichsabgaben der Firmen, die keine Behinderten beschäftigen, fließen nun in Projekte, die Gehandikapten zugute kommen. Und damit auch ihrer Ausbildung.

Früher war es gang und gäbe, Gehörlosen einen Hauptschulabschluss an einer Förder- oder Integrationsschule zu verschaffen, anschließend gingen sie in Berufe, die nur ein Mindestmaß an Kommunikation voraussetzten: Tischler, Zahntechniker, oft Polsterer. Heute sind die Länder verpflichtet, Gehörlose – meist durch Dolmetscherdienste – zu fördern. Viele machen inzwischen Abitur. Bauzeichner zu werden, zu studieren, in der Verwaltung zu arbeiten sind inzwischen realistische Ziele.

So beschäftigt etwa Airbus Hamburg bei rund 9.500 Stammmitarbeitern 336 Schwerbehinderte und Gleichgestellte.

Zwanzig Gehörlose und drei Rollstuhlfahrer arbeiten hier im Angestellten- und gewerblichen Bereich. Das schließt Kundenkontakte ein. Aber wie kommuniziert der gehörlose Bankbeamte mit seiner Kundin? Wie fragt der hörende Kollege den tauben, wo die zu gestern fälligen Unterlagen bleiben? „Wir haben für die Gehörlosen eine Bildschirmtelefonanlage angeschafft, damit sie jederzeit mit allen übrigen hörenden Kollegen kommunizieren können“, heißt es aus dem Unternehmen.

Punkt dreizehn Uhr sitzt Kira Knühmann-Stengel im ausgebauten Keller ihres Hauses im Mülheimer Stadtteil Heimaterde. Ein schöner Name für ein Quartier, in dem man sich kennt, wo die Kinder vom nahen Spielplatz klingeln, um bei den Knühmann-Stengels aufs Klo zu gehen.

Aus dem Obergeschoss hört man gedämpft die Soundtapete einer Großfamilie. Knühmann-Stengel setzt sich an ihren Schreibtisch. Es ist TeleSign-Zeit. Das Bildtelefon klingelt. Auf dem Screen erscheint Herr F. aus Wuppertal, der seine Dolmetscherin bittet, für ihn ein Gespräch mit seinem Kollegen in der Außenstelle Osnabrück zu übersetzen. Knühmann-Stengel wählt die Nummer. „Guten Tag, TeleSign-Dienst. Ich übersetze einen Anruf von Herrn F. aus Wuppertal, der selbst nicht hörend ist …“

Fünf Außenstellen hat TeleSign. Bundesweit sitzen zu vorgegebenen Zeiten vierzehn Mitarbeiter an den Geräten und verbinden die hörende mit der nicht hörenden Welt. „Ein wichtiger Service“, so sieht es Knühmann-Stengel, „auch wenn manche nur zu Hause fragen lassen, was es heute Abend zum Essen gibt.“

TeleSign, das vom Bundessozialministerium gefördert wird, kann nur von Berufstätigen in Anspruch genommen werden. Für die Dolmetscher ist der Job anstrengend. Stundenlang starren sie auf den winzigen Bildschirm und müssen freundlich bleiben, auch wenn die Kunden mal ungeduldig sind oder sich missverstanden fühlen. „Dafür werden wir dann noch lausig bezahlt. Dabei können so etwas nur die Besten.“ Kira Knühmann-Stengel verdient aber insgesamt gut. Ihr Lehrauftrag, die Honoraraufträge und der Job bei Phoenix bringen genug Geld, damit sich die Familie Haushaltshilfe und Babysitter leisten kann. Der wird an fünf Abenden im Monat engagiert, wenn Knühmann-Stengel nach Bonn fährt und im ehemaligen ZDF-Hauptstadtstudio die Nachrichten gebärdendolmetscht.

Dort, beim „heute-journal“ um 21.45 Uhr, herrscht eine ruhige Nachrichtenlage. Moderator Klaus Kleber schaut verbindlich, als er meldet, dass der Mörder der schwedischen Außenministerin Anna Lindh gefasst zu sein scheint, lächelt höflich, als er den Bericht über Oskar Lafontaines Geburtstagsempfang im Saarbrücker Rathaus anmoderiert, blickt besorgt, als es um die Schwierigkeiten der Mauteinführung geht. Kira Knühmann-Stengel ist am rechten unteren Bildrand eingeblendet. Mit dunkelrot geschminkten Lippen und im schwarzen Dienstblazer, damit ihre Hände gut zu sehen sind, beginnt sie zu gestikulieren. Rollt mit den Augen, runzelt die Stirn, wechselt Spielbein und Standbein, um Interviewsituationen zu markieren. Rasend schnell geht das, und es ist kaum vorstellbar, dass Gehörlose diesem Chaos tatsächlich Sinn entnehmen können.

Am Ende der halben Stunde Hochgeschwindigkeitsübersetzung räumt sie noch eine Wolke beiseite – das Wetter wird schön morgen – und verabschiedet sich im Namen des Wettermanns mit einem kurzen Winken. Zeit, Richtung Heimaterde aufzubrechen.

ANJA MAIER, 38, ist Redakteurin im taz-Schwerpunktressort und lebt in Oranienburg. Sie erwägt, einen Gebärdenkurs zu belegen