: Das Theater in Bewegung halten
Ende einer Ära und Beginn einer neuen: Nach neun Jahren verlässt Intendant Ulrich Khuon das Hamburger Thalia Theater und wechselt nach Berlin. Zum Endspurt demonstriert sein Haus noch einmal, was selbstbewusstes Regietheater zu leisten vermag
VON SIMONE KAEMPF
Michael Thalheimers Inszenierung von „Liliom“, die für so viel Aufregung gesorgt hat, läuft im April noch ein letztes Mal. Dann ist Schluss, das Bühnenbild wird zerschreddert, und auch der Zwischenfall, der den Abend in die Öffentlichkeit gerückt hat, geht endgültig in die Theatergeschichte ein. Der ehemalige Bürgermeister Klaus von Dohnanyi hatte während der Premiere vor bald neun Jahren laut gerufen, dies sei doch ein anständiges Stück, und Tage später in einem Interview erklärt, dass solcherart Regie auf Dauer das Theater zerstöre. Er stand mit seiner Ansicht nicht allein da. Während der zweiten „Liliom“-Vorstellung sammelten sich im Foyer wütende Zuschauer, die drohten, die neue Theaterleitung aus der Stadt zu ekeln, und eine feindselige Atmosphäre verbreiteten, die die Chefdramaturgin Sonja Anders damals als regelrecht bedrohlich empfand – gerade weil stilvoll gekleidete Männer Anfang vierzig vor ihr standen, die vehement um ihre Ideen vom bürgerlichen Theater kämpften.
In diesen Wochen nähert sich die neunjährige Intendanz von Ulrich Khuon langsam ihrem Ende, und es lohnt sich, noch einmal an die Kämpfe des Anfangs zu erinnern. Die Ablehnung, die „Liliom“ erfuhr, wurde mindestens genauso wichtig wie die Zustimmung beim Publikum. Am Thalia startete Thalheimers Durchbruch; die zugespitzte Handlung und enigmatisch verstörten Figuren, aus denen die Emotionen nach minutenlangem Schweigen herausbrechen, machen bis heute die Qualität seiner Inszenierungen aus. Die frühe Auseinandersetzung in der Hamburger Ära Khuon, ob der Regisseur das Theater zerstört oder doch neu erschafft, bereitete am Thalia erst den Weg für Thalheimers weitere Arbeiten sowie die von Stephan Kimmig, Andreas Kriegenburg oder Armin Petras.
Theater braucht starke Regiehandschriften, lautete die Botschaft am Thalia. Man setzte am Haus auf gegenseitiges Vertrauen, stark genug, um auch Misserfolge zu überdauern. Und bewies, dass unterschiedliche Stile sehr wohl unter einem Dach zu vereinen sind. Die Härte von Thalheimer korrespondierte fortan mit der Verspieltheit von Kriegenburg und der Psychologie bei Kimmig. 2003 und 2007 waren die beiden Jahre, die dem Thalia Theater die größten Erfolge einbrachten: Wahl zum Theater des Jahres, Einladungen zum Theatertreffen sowie zu den Mülheimer Theatertagen, Preise für die Schauspieler. Die Hartnäckigkeit zahlte sich aus, mit der man dem Publikum unermüdlich Regisseure, Autoren, Themen verständlich gemacht hat, bis es sie annahm. Kimmig, Kriegenburg, Thalheimer haben das Haus geprägt. Dass sie in diesem Monat nacheinander ein letztes Mal am Thalia Theater inszenieren, hat etwas Symbolisches und richtet den Blick auf sie.
Michael Thalheimers Auftakt mit Schnitzlers „Reigen“ ist einerseits ein für ihn ganz typischer Abend. Das krankhafte Unvermögen zu kommunizieren, das sich bei ihm in minimaler, aber intensiver Körpersprache zeigt und schon in „Liliom“ den Zugriff bestimmte, entlädt sich dieses Mal in zehn Geschlechtsakten. Statt stummer Verzweiflungsgesten herrschen allerdings lautes Gebrüll und verbissenes Hochschaukeln zum nächsten Koitus. Männerleiber rattern wie Maschinen in die Frauen, die rücklings die Beine spreizen. Die Lust ist reine Gewalt, angetrieben von einer Wut, deren Gründe weit über diesen Theaterabend hinausreichen.
Unterschiedlicher dazu könnte das vergebliche Liebesspiel in Andreas Kriegenburgs Inszenierung des „Menschenfeind“ gar nicht sein. Vorne auf der Bühne umgarnt Célimène die Männer abwechselnd bei einem Tangotänzchen und genießt es, sich für keinen zu entscheiden. Auf den beiden großen Filmleinwänden im Hintergrund sieht man immer zwei Gesichter. Die Filmkamera ist dicht dran, um die Emotionen zu vergrößern, jedes Zucken der Mundwinkel, hüpfende Augenbrauen, sich bewegende Hautfältchen. Aber unter die Haut gehen sich diese Sehnsüchtigen genauso wenig wie Thalheimers Geschlechtspartner.
Kriegenburgs Inszenierung erweitert nachträglich den Blick auf Thalheimers „Reigen“. Die Inszenierungen ergänzen sich darin, dass grenzenlose Sehnsucht nach Nähe echte Begegnungen erst recht verhindern kann. Die Gefühlskrüppel im „Reigen“ beherrschen nicht mehr die Wege, sich normal zu begegnen. Im „Menschenfeind“ reden Alceste und Célimène ungemein eloquent über die wahre Liebe, aber verschrecken sich in ihren überzogenen Ansprüchen an Moral und Perfektion.
Beide Arbeiten zusammen trösten darüber hinweg, dass Stephan Kimmigs Inszenierung von Dennis Kellys „Liebe und Geld“ uninspiriert geraten ist. Im alltäglichen Erzählton wird in dem szenenhaften Stück die Wirkung des Geldes behandelt, das übermächtig über Leben und Tod entscheidet. David zum Beispiel hat beim Selbstmord seiner Frau nachgeholfen, um durch ihren Tod die 70.000 Pfund Schulden loszuwerden, die ihn von einem neuen Auto trennen. Die kaufsüchtige Jess wurde zur Beteiligten an einem Raubmord, weil sie den Umweg über eine Einkaufstraße nahm. In dem Wohnskelett mit Betten, Leitern und Kleiderhaken, in dem Kimmig das Stück spielen lässt, wirken ihre Nöte jedoch schlecht aufgehoben und die Figuren zu schlaff, um über den Raum des Privaten hinwegzuweisen.
Als Puzzlesteine sind jedoch alle drei Inszenierungen repräsentativ für die Arbeit des Thalia: Das Bühnengeschehen leistet nicht Widerstand gegen die Wirklichkeit, sondern benutzt sie und lässt mit genauem Blick reale Machtstrukturen und Geschlechterrollen, Einsamkeit und Sehnsucht zusammenwirken. Eine Figur wie Kellys David, der mit dem Tod seiner Frau dem Traum vom schnellen Auto näherrücken will, ist vorstellbar, verstehbar ist er nicht und gerade deshalb interessant. Dass Kellys Stück in Kimmigs Regie blass bleibt, ist eigentlich zweitrangig, so überzeugend offenbart sich mit diesen drei Inszenierungen eine Spielplangestaltung, in der schwache Arbeit durch andere starke getragen wird. Themen, die im gesellschaftlichen Raum schweben, werden auf der Bühne mehrmals aufgegriffen und von unterschiedlichen Seiten beleuchtet. „Es gab Zeiten, in denen die politischen Kräfte eine große Energie entfalten konnten“, holt Ulrich Khuon aus, fragt man ihn, auf welchen Stand er das Theater heute sieht, „Theater hat die Aufgabe, solche Machtpotenziale zu thematisieren. Im Moment herrscht eine Situation, in der Gemeinschaft stiftende Kräfte geschwächt sind und sich das Individuum verloren vorkommt.“
Khuon wird im Sommer mit der Dramaturgie, einem Teil der Regisseure und des Ensembles nach Berlin wechseln. Was vorher in Hamburg gemacht wird, entsteht jetzt in Berlin – so einfach ist das allerdings nur aus der Distanz. Aus Hamburger, Berliner und neu angeworbenen Schauspielern muss sich ein Ensemble bilden. Und wer weiß, ob sich die Arbeit wieder so geduldig durchsetzen lässt.
Es wird sich in der nächsten Spielzeit jedenfalls überhaupt einiges in der deutschsprachigen Theaterlandschaft bewegen. Joachim Lux übernimmt Khuons Posten am Thalia Theater, Wilfried Schulz wechselt von Hannover nach Dresden, Oliver Reese übernimmt das Schauspiel Frankfurt. Matthias Hartmann geht nach Wien, und in Zürich wird Barbara Frey erstmals Intendantin. Wer welchen Regisseur gewinnen konnte und mit welchen neuen Autoren zusammenbringt, ist bisher nur gerüchteweise durchgedrungen. Die Pläne werden im Frühjahr nach und nach bekannt gegeben. Das Bekenntnis zu einem selbstbewussten Regietheater mit inhaltlichem Programm, wie es in Hamburg betrieben wurde, ist jedenfalls auch andernorts zum Vorbild geworden. Langfristig zusammenzuarbeiten, Prozesse gemeinschaftlich zu hinterfragen und die Kräfte aus Text, Regie, Schauspieler in Bewegung zu halten: Mit diesem Prinzip hat Ulrich Khuon zum Ende seiner Amtszeit in Hamburg noch einmal einen starken Eindruck hinterlassen. Jetzt werden die Karten neu gemischt. Man kann gespannt sein.