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Archiv-Artikel

Aufstehen und weggehen

Gianni Celati gehört zu den radikalsten und ironischsten Protagonisten des neuen Erzählens in Italien. Dennoch ist er ein Außenseiter geblieben. Heute liest er auf dem Internationalen Literaturfestival

VON CHRISTIANE BREITHAUPT

Es ist laut im Café Wintergarten im Literaturhaus in der Fasanenstraße: Tellerschlagen am Tresen, ein schreiendes Kind am Nachbartisch, eine aufgedrehte Damenmannschaft mit großen Hüten feiert. Überhaupt scheint das berühmte und gut besuchte Café ein ungeeigneter Ort zu sein, um den italienischen Schriftsteller Gianni Celati zu treffen, der derzeit als DAAD-Stipendiat in Berlin lebt. Denn der 1937 in Sondrio geborene Autor ist – obwohl er auf sämtlichen Lektürelisten von Italianistik-Seminaren über das neue Erzählen in Italien auftaucht – ein literarischer Außenseiter geblieben. Und ein bewusster Verweigerer des Literaturbetriebs. Er spricht leise, viel und schnell. Wie eingekeilt in die Gesprächsfetzen der anderen Gäste entschuldigt er sich: Er fühle sich krank, er habe Druck auf den Ohren, als würde er in einem Flugzeug sitzen. Das verstärkt den Eindruck, es hier mit einem sehr verhaltenen, sehr melancholischen Autor zu tun zu haben.

In den Siebzigerjahren fiel Celati durch seine große Fabulierlust auf, die ihn in die Nähe der Neoavantgarden, von Autoren wie Italo Calvino und Umberto Eco, rückte. Die Helden seiner vier Romane jener Zeit, von denen nur Letzterer, „Mondphasen im Paradies“, in deutscher Übersetzung vorliegt, sind allesamt exzentrische Antihelden, die fast in den Wahnsinn kippen. Beinahe klingt es wie ein Klischee aus der 68er-, aus der Antipsychiatrie-Bewegung, wenn Celati erzählt, wie er zum Schreiben gekommen ist: Als er einmal im Jahr 1966 krank war und tagelang das Bett hüten musste, brachte ihm ein Freund, der in einer psychiatrischen Klinik arbeitete, Aufzeichnungen eines Kranken mit. Diese Texte hätten ihn, der eigentlich nie schreiben wollte, weil sein Vater immerzu von Literatur redete, zu einer Kurzgeschichte animiert. Auf die ist dann Italo Calvino aufmerksam geworden, der damals als Lektor beim Einaudi-Verlag arbeitete.

Wie viele italienische Schriftsteller lehrte Gianni Celati jahrelang an der Universität. Von 1973 an unterrichtete er in Bologna englische und amerikanische Literatur. Er schrieb seine Dissertation über James Joyce, verfasste eine Reihe literaturkritischer Essays und übersetzte, zum Beispiel, Mark Twain, Jonathan Swift und Roland Barthes. Anfang der Achtzigerjahre unterbrach er dann seine Lehrtätigkeit. Seitdem arbeitet Celati als experimenteller Videofilmer, lehrt als Gastdozent an verschiedenen Universitäten – und lebt seit vielen Jahren nicht mehr in Italien, sondern im südenglischen Brighton.

Sein literarisches Oevre ist schmal, seit „Mondphasen im Paradies“ hat er gerade mal drei Erzählbände, die auch auf Deutsch erschienen sind, und zwei Reportagen veröffentlicht. Unter dem Eindruck der Zusammenarbeit mit dem 1992 verstorbenen minimalistischen Fotografen Luigi Ghirri erschien 1985, nach einer siebenjährigen Schreibpause, die preisgekrönte Erzählsammlung „Erzähler der Ebenen“ und verblüffte die Literaturwelt: Die Kurzgeschichten, an der Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation, wirken wie zufällig beim Reisen aufgeschnappt. Sie erzählen von Leuten entlang der Po-Ebene: vom Amateurfunker aus Gallarate, der sich stundenlang mit einem schottischen Funker unterhält; von zwei Kindern auf der Suche nach Erwachsenen; von einer Radrennfahrerin und ihrem Verehrer, den sie nicht erhört. Einfache, minimalistische Geschichten, wie fotografiert, ohne jede Innenschau der Figuren, die vage und eigenartig anonym bleiben: Es geht um „einen“ und nicht „den“ Herrenfriseur in Piacenza oder um „eine Frau“, die jeden Tag fünfzig Kilometer zur Arbeit fährt und jedes Mal auf dem Heimweg hört, wie die Zeit vergeht. Man fühlt sich immer ein wenig fremd in Celatis Geschichten, zumal sie oftmals abrupt enden. Fast scheint es dann, als würde einer, der spazieren geht und von dem erzählt, was er links und recht sieht, plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, stehen bleiben.

Auf die Frage, warum er so lang keinen Roman mehr geschrieben hat, reagiert Celati fast brüsk. Ein Roman sei eine „reaktionäre Struktur“, eine „Heuchelei“ mit einem „industriellen“ Plot, sagt er. Plötzlich gibt es kein Halten mehr für den schwierigen Gesprächspartner. Er redet gegen den Literaturbetrieb an, wie sehr dieser der Zensur des Commonsense verpflichtet sei. Eine Erzählung, wie er sie versteht, ist nicht vorausschaubar, sondern funktioniert wie ein musikalisches Motiv, das sich nach und nach entwickelt, sagt er. Und dann erzählt er davon, wie er experimentiert hat, beispielsweise abends geschrieben, wenn er schon ganz müde und nicht mehr wirklich zu rationaler Denkleistung fähig war. Und trotzdem ist Gianni Celati kein Autor, der das Erzählen als heiliges, natürliches Ereignis begreift, dazu schreibt er viel zu humorvoll, ironisch und grotesk. So endet einer seiner Geschichten zum Beispiel ganz lapidar mit dem Satz, dass die Erzählung nun zu Ende sei, „und außerdem auch nicht besonders glaubwürdig, wegen der sprechenden Landmaus“.

Einige von Celatis Geschichten handeln davon, dass zu viel gesprochen wird in dieser Welt oder vom plötzlichen Verstummen ohne besonderen Grund. Der schweigsame Ingenieur aus Mirandola in der Geschichte „Die Stadt von Medina Sabah“ berichtet zum Beispiel auf seiner eigenen Hochzeit plötzlich und unerwartet von einem Afrika-Aufenthalt. Die Begründung: Er kann das „Geschwätz auf einem Hochzeitsessen nicht ausstehen“. Und „Baratto“ aus der gleichnamigen Geschichte lässt plötzlich seine Mitspieler mitten in einem Rugbyspiel im Stich, hört dann auf zu sprechen, und bald darauf gehen ihm auch noch die Gedanken aus. Den Eindruck, zu viel zu reden, muss Gianni Celati bei unserem Treffen auf einmal auch selbst gewonnen haben. Plötzlich, mitten im Satz, steht er auf, sagt, dass er von hier wegwolle, und zahlt die Getränke. Ohne jede Vorbereitung, als würden Autor und Erzähler zusammentreffen, sucht er das Weite.

Lesung von Gianni Celati aus „Erzähler der Ebenen“, heute, 19.15 Uhr im Rahmen des Literaturfestivals im Theater Hebbel am Ufer HAU 2, Hallesches Ufer 32, Kreuzberg