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Archiv-Artikel

Was ein Café mit vier Ecken eigentlich sein soll

In Moabit kann man an einer Straßenkreuzung beim Espresso über die wichtigen Fragen im Leben nachdenken – wenn die Revolution irgendwie nicht stattfand. Ein Dialog über eine Welt, die verschwunden ist. Samt Antwort aus Pirmasens

An der Turmstraße Ecke Waldstraße zeigt die Großstadt ihre Zähne. Braun sind sie wie bei dem Mann mit dem angegrauten Bart, der kurzen Hose, den Sandalen. Einmal, vor Jahren, das lässt der Che-Guevara-Button an seinem Hemd vermuten, kam er in die Stadt, um die Revolution voranzubringen. Jetzt trinkt er mit dem Kumpel einen Espresso im Coffee Corner. „Hier ist Leben, wa“, sagt er zu seinem Kumpel und deutet auf die Menschen, die die Kreuzung überqueren.

Schwangere, die ihre Bäuche zur Schau stellen, Magersüchtige, die sich gesundschminken, Weißhaarige in billigen Anzügen, Wanderarbeiter mit Rucksäcken, rauchende Maler, Rad fahrende Mütter, bekopftuchte Großmütter mit gepiercten Enkelinnen. „Leben eben, wa!“

Der Zungenschlag des Mannes ist süddeutsch gefärbt. Gleichzeitig ist an dem von ihm gern benutzten „wa“ zu erkennen, dass dieser Wahlberliner am liebsten in der Stadt – dem Westteil wohl – geboren wäre. Die Herkunft und Vergangenheit seines Kaffee trinkenden Kollegen dagegen erschließt sich nicht so leicht. Er hat Anpackerhände, die nach Bauarbeit aussehen, und ein markantes Gesicht, das nicht grob wirkt. Er strahlt das Ambiente von verarmtem kurdischem Landadel und Moabiter Hinterhof in einem aus. Auf eine charmante, wenngleich grammatikalisch noch nicht dudenfähige Art, berlinert er. „Nachher geh ick Obi“, sagt er.

Das Café, vor dem die beiden sitzen, wollte mal vornehm sein. Damals hieß es noch „Chicago Coffe Company Shop“. Als „Coffee Corner“ ein bisschen angestaubt ist es heute im Turmstraßen-Alltag angekommen. Den Exrevolutionär allerdings beschäftigt eine andere Form von Vergänglichkeit. „Wie heißt das denn nur, wenn an allen vier Ecken einer Kreuzung in Berlin eine Kneipe ist? Das hier, das muss doch so eine gewesen sein, wa?“ Er lässt seine Hand elegant über die Kreuzung schweifen. Der halbadlige Hinterhofberliner folgt ihm mit den Augen und fragt ihn, was er ihm da jetzt genau mitteilen wolle. Denn auf den ersten Blick erschließt sich eine solche städtebauliche Sicht nicht. Außer dem Coffee Corner, zu dem eine Mini-Lounge für geheime Gesellschaften gehört, gibt es auf der gegenüberliegenden Ecke in einem heruntergekommenen Bau einen Second-Hand-Laden. Dessen Schaufenster sind mit Postern, auf denen ausschließlich die simple Message „1 Euro“ steht, zugekleistert. Auf der anderen Seite der Turmstraße, dort, wo die Waldstraße in die Gotzkowskystraße übergeht, sind auch keine Kneipen. Stattdessen eine Citibank in einem Gebäude, dessen Glanzzeit lange vorbei ist, und ein intaktes Haus mit ordentlicher Traufhöhe, im Erdgeschoss die Filiale einer Alles-billig-Ladenkette. „Zeeman textiel Supers“ heißt sie, und die Schreibweise ist so, wie man sie sich auf der Turmstraße gut vorstellen kann. Ein Matrose ist das Erkennungszeichen, „Kauf 2, nimm 3“ seine Message.

„Das muss doch Café Viereck heißen, wenn an allen vier Ecken eine Kneipe ist“, beharrt der süddeutsche Berliner. „Ick kenn nur Café Sechseck“, sagt der Einheimische. „Da“ – und er deutet auf das moderne öffentliche Klo, die City-Toilette, mit ihrer viersprachigen Bedienungsanleitung, deutsch, englisch, französisch, türkisch, visionäre Europa eben. „Nein“, wehrt der ehemalige Revolutionär ab und beginnt auszuschweifen: Der Kapitalismus mache auch vor den Toiletten nicht Halt. Die alten grünen Klopaläste, mit ihren gusseisernen Verzierungen, das war noch was, aber das meine er nicht. Dozierend entrüstet er sich, dass für Geld Kultur verhökert werde, und handle es sich dabei auch nur um Pissoirs. Der Sandalenjünger hätte die Welt immer schon so gerne ins Lot gebracht. Aber davon rede er nun nicht, sagt er, nachdem er schon eine Weile darüber geredet hat. „Café Viereck mein ich, wa,“ – „Wat soll’n det sein?“, fragt der andere. „Na eben das“, sagt der Erste. So geht das eine Zeit lang. Café Viereck ausgespielt gegen Café Sechseck und dass es schade ist, dass das alles verschwunden sei. Die Pissoirs, die Kneipen und natürlich auch die Mauer. Denn seither strebe das Altbewährte sicher dem Untergang entgegen.

Der Revolutionär in Sandalen ist untröstlich. Weder das Meerblau der Citibank-Reklame, noch der „COFFEE TO GO“ noch die verwitternden Plakate zur Europawahl zeigen ihm, dass das, was ihn beschäftigt, mehr als eine Randnotiz wert ist. Ein Espressotrinker, der schon länger zugehört hat, erbarmt sich: „ ‚Café Viereck‘ heißt in Pirmasens, wo ich herkomme, ‚Knast‘ “, sagt er. Dem Revolutionär geht ein Licht auf. „Stimmt, jetzt wo du’s mir sagst …!“ WALTRAUD SCHWAB