: Was soll es bedeuten?
Die Interpretation von Wahlen überfordert nicht nur die Politiker. Höchste Zeit, den Wahlschein zu reformieren
Sich über die Interpretation von Wahlergebnissen seitens der Parteisprecher zu mokieren, stellt ein immerwährendes, allerdings auch etwas billiges Vergnügen dar. Denn es hieße Unmenschliches zu verlangen, wenn etwa Gerhard Schröder nach der Bundestagswahl 1998 erklärt hätte, sein Triumph sei nicht das Resultat eigener Stärke, sondern des allgemeinen Überdrusses an Kohl gewesen. Wenn wir uns nun Hilfe suchend an Wahlforscher und politische Kommentatoren zwecks Aufklärung wenden, so erleben wir einen eigenartigen Schwebezustand, in dem logische Gesetze wie das der Widerspruchsfreiheit außer Kraft gesetzt sind.
Das Rennen für die Landtagswahl Mai 2005 in NRW ist nach den Kommunalwahlen ein wenig offener geworden – dies das prognostische Fazit der Forscher und Kommentatoren. Der ein wenig offene Türspalt bietet Raum für weit ausholende, allerdings sich ausschließende Interpretationen, vor allem wenn sie im gleichen Text vorgetragen werden. Einerseits hat die SPD den Analysen zufolge das schlechteste Ergebnis seit Menschengedenken in ihrem Stammland erzielt. Aber andererseits hat sie mit höheren Verlusten gerechnet und zeigt sich jetzt ermuntert. So die Prognose. Die CDU wiederum hat unter Beweis gestellt, dass ihr Erdrutschsieg bei den Kommunalwahlen von 1999 keine Eintagsfliege war. Sie verfügt auch jetzt über einen höheren Stimmanteil als Rot-Grün zusammengenommen und kann optimistisch den Landtagswahlen entgegensehen. Andererseits hat sie aber doch 7 Prozent verloren und wird sich schwer tun, bei der kommenden Landtagswahl „Siegeszuversicht zu verbreiten“, wie der Sprecher des Forsa-Instituts meint. Kommunalpolitische Themen standen, so die Analysen, im Vordergrund, aber andererseits spielte der Bundestrend die ausschlaggebende Rolle. Einerseits lässt die „Irritation“ angesichts der Auswirkungen von Hartz IV nach, aber andererseits wäre die CDU gut beraten, sich als Partei der „humanen Reformen“ zu präsentieren.
„Ein wenig offen“ stellt sich die Frage nach langfristig wirksamen, regional unterschiedlichen Bindungen des Wahlvolks in NRW dar. Bis hin zu der bangen Frage, ob es nicht vielleicht stets eine Illusion gewesen war, von einer SPD-Hegemonie „zwischen Rhein und Weser“ zu sprechen. Aber es gibt doch empirischer Forschung zufolge das sozialdemokratisch vermittelte „Wir in NRW“-Gefühl!
Schrecklicherweise wird auch die Landtagswahl vom Mai 2005 hier nicht nachträglich Klarheit schaffen. Denn deren Ergebnis wird wiederum als Tendenz für die Bundestagswahlen 2006 interpretiert. So erhalten wir reichlich Stoff für weitere, sich ausschließende Erklärungsmodelle. Diesem Übelstand kann nur durch eine weitere grundlegende Reform abgeholfen werden. Denn solange sich der Wahlentscheid der Bürger auf ein simples Kreuzchen reduziert, ist jede Interpretation aktuellen, vor allem aber zukünftigen Wahlverhaltens gleichgültig. Deshalb ist es dringend an der Zeit, dem Wahlschein einen ausführlichen, wissenschaftlich erarbeiteten Fragebogen vorzuschalten, der uns ebenso detailliert wie datenschutzsicher Auskunft über Gedanken und Gefühle der Wähler vermittelt. Von dessen korrekter Ausfüllung muss die Gültigkeit der Stimmabgabe der BürgerInnen abhängig gemacht werden. Die gegenwärtigen Fragebögen wegen Arbeitslosengeld II können hierfür als Probelauf dienen.
CHRISTIAN SEMLER