: Jenseits von Marxloh
Der SPD laufen die Stammwähler weg – weil die Partei nach ihrem Abschied vom sozialen Staat keinen neuen Sinn findet. Ihre einzige Hoffnung ist der Zustand der Union
Nach der Kommunalwahl in NRW traten SPD-Spitzenpolitiker freudig vor die Kameras und erklärten lächelnd, dass dieses Resultat eine Wende sei. Übersehen wir, dass es ein tollkühner Versuch war, das schlechteste Ergebnis seit 1946 in eine Art Sieg umzudeuten und fassen den Kern ins Auge. Die SPD hat offenbar wirklich das Gefühl, das Schlimmste hinter sich zu haben. Lesen wir die Ergebnisse von NRW probehalber mit den Augen der SPD-Spitze.
Die neue sozialdemokratische Erzählung geht in etwa so: Die Agenda 2010 ist nötig, weil der Staat anders nicht mehr finanzierbar ist. Faktisch geht es um den Rückbau des Sozialstaats zuungunsten des unteren Fünftels – das Fördern und Fordern ist rhetorische Tünche, von der bald außer eine paar tausend Ein-Euro-Jobs nicht viel übrig sein wird. Aber es geht eben nicht anders.
Dies begreift nun auch die eigene Klientel, die darauf verzichtet, der Partei demonstrative Wahlniederlagen wie in Hamburg zu bescheren. Das Übelste ist überstanden: Die Mechanik – SPD verliert, CDU gewinnt – ist außer Kraft gesetzt. Besonders gefallen haben dürfte der SPD-Spitze dieser Umfragetrend: Im Februar waren nur 35 Prozent für die Agenda 2010, heute sind es 48 Prozent. Daher rührt die seltsam aufgeräumte Stimmung in der SPD. Anders als vor sechs Monaten, scheint plötzlich wieder alles drin zu sein: Ein Sieg im Mai 2005 in NRW, und auch in Berlin 2006. Man muss nur den Trend – SPD stabil, Grün gewinnt mehr als die FDP, CDU verliert – in die Zukunft verlängern. So gesehen erscheinen die knapp 32 Prozent der SPD in NRW in verheißungsvollem Licht: ein Niederlagen-Triumph.
Dies ist, so das neue SPD-Selbstbild, ein Beweis für die weitsichtige Politik des großen Steuermanns Gerhard Schröder. Denn der hat sich nicht von Montagdemos und nicht von dem anhaltenden Strom von Parteiaustritten irritieren lassen. Für dieses neue sozialdemokratische Passepartout spricht vor allem eins: der Zustand der Union. Die Schröder-SPD steht nun für das Projekt eines rhetorisch wattierten Sozialstaatsabbaus – und die Union weiß nicht, ob sie, wie Angela Merkel, für eine schärfere Variante stehen will oder sich, zumindest taktisch, auf die Seite der Verlierer schlagen soll. Die inhaltliche Unschärfe überkreuzt sich in der Union mit personellen Machtkämpfen – und dies wird, angesichts kommender Wahlniederlagen, für innerparteiliche Tumulte sorgen.
Und schließlich, so die frohe sozialdemokratische Selbstdeutung, zeige NRW, dass der Westen anders als der Osten tickt. Die Volksparteien verlieren zwar, aber die Wut auf Hartz IV katapultiert keine Rechtsextremen ins Parlament.
Doch dieses Gemälde der politischen Landschaft hat ein paar Löcher. Die Reform-Debatte stößt bei der SPD-Basis noch immer bestenfalls auf Skepsis. Und zwar nicht nur, weil die Wähler, die im Januar von Arbeitslosengeld auf Stütze heruntergekürzt werden, wenig Lust haben werden, im Mai in NRW die SPD zu wählen. Schröder hat der Partei ein fortwährendes Sinnvakuum beschert. Er hat die Kernidee der Sozialdemokratie, den sozialen Staat, zur Disposition gestellt – ohne eine neue positive Begründung zu liefern. Die Agenda 2010 ist noch immer so etwas wie ein Putsch von oben und Hartz IV noch immer das ungelöste Problem der SPD. Deshalb schafft sie es nicht, trotz ansteigender Stimmungskurve und trotz des Sinkflugs der CDU, ihre frustrierte Stammklientel zu remobilisieren. Die Grundidee der Schröder-SPD, die neue Mitte mit ihrer Stammklientel zu versöhnen, für die mal der Slogan „Innovation und Gerechtigkeit“ erfunden wurde, ist gescheitert. Schon bei der Bundestagswahl 2002 hat die SPD am stärksten bei den Arbeitern verloren. Gegen diesen Trend findet sie kein Konzept.
Brennspiegelhaft verdeutlicht dies das Ergebnis im Ruhrgebiet. Dort hat die SPD ihre mehr als dreißig Jahre während Hegemonie, nach dem Debakel 1999, erst jetzt wirklich verloren. Für die Demokratie dort ist das Verschwinden der SPD-Cliquen, die Gewerkschaften, Stadtwerke, Verwaltung und Stadträte in quasi feudaler Manier beherrschten, ein Gewinn – aber für die SPD ist dieser Machtverlust ein Menetekel. Die Partei hat dort den Übergang vom Schwerindustriekapitalismus zum postindustriellen gemanagt. Doch anders als der CSU in Bayern ist es ihr nicht gelungen, Selbstfolklorisierung, Etatismus und den entschlossenen Willen zum Fortschritt zu einer ökonomisch erfolgreichen Machtstruktur zusammenzufügen. Zwar wurden Einkaufspaläste wie das Centro in Oberhausen aus dem Boden gestampft, neue Technologie mit Milliarden Subventionen bedacht und jedes taugliche Fabrikgebäude zum Industriedenkmal gemacht. Doch jenseits der glänzenden Symbole des Strukturwandels wachsen seit Jahren von Duisburg Marxloh bis Dortmund-Nordstadt Elendsquartiere, die an britische Vorstädte der 80er erinnern. Früher waren diese proletarischen Wohngegenden sozialdemokratisches Kernland, heute gehen dort kaum mehr als dreißig Prozent überhaupt zur Wahl. Die SPD hat bei diesem unteren Fünftel, das Reform korrekt mit „weniger Geld für uns“ übersetzt, nicht mehr viel zu melden. Es sieht sich nur vor der Wahl zwischen Apathie und Protest.
Es ist also eine Selbsttäuschung, wenn sich die SPD nun einredet, die rechte Gefahr wäre gebannt. Die Rechtsextremen in NRW haben keine spektakulären Erfolge erzielt, weil sie vielerorts gar nicht angetreten sind. Wo sie wählbar waren, haben sie durchaus gewonnen. In Köln und Dortmund haben zehn Prozent der Erstwähler rechtsextrem votiert. Und die Hälfte der Erstwähler, die in Dortmund DVU gewählt haben, begründeten dies mit Hartz IV.
Die Tendenz ist nicht so drastisch wie im Osten, ist aber im Kern die gleiche: Die Jungen und die Armen neigen zum Rechtsextremen. Dortmund zeigt, dass die Herzschwäche der SPD nicht behoben ist. Das einzig wirksame Mittel gegen Rechtsextreme scheinen noch immer die Rechtsextremen selbst zu sein – ihr Sektierertum, ihre Unfähigkeit, sich zu einigen und halbwegs solide Politik auf die Beine zu stellen. Wer darauf baut, dass dies so bleibt, steht auf schwankendem Boden.
Für ganz forsche, moderne, neumittige Sozialdemokraten dürfte es um das Ruhrgebiet nicht schade sein. Die SPD hatte dort als folkloristischer Traditionsverein sowieso keine Zukunft. Die Basis, die von Herne bis Hagen wegbricht, wäre im Zuge der Auflösung der Milieus ohnehin verloren gegangen – Schröder hat also nur beschleunigt, was sowieso passiert wäre.
Die SPD-Spitze hält die Landtagswahl 2005 nun für „völlig offen“. Das ist Wunschdenken. Die Kommunalwahl hat gezeigt: Die CDU hat ihre bibelfeste Stammwählerschaft von Paderborn bis Arnsberg hinter sich, die SPD ihre Klientel zwischen Moers und Hamm nicht. Wenn das so bleibt, wird die Schröder-SPD auch künftig Wahlen bestenfalls mal nur ein bisschen nicht verlieren. Denn gewinnen kann sie ohne Stammwählerschaft nicht.
STEFAN REINECKE