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Archiv-Artikel

Chic und nicht teuer

Glanz und Elend: Während das Genre des klassischen Chansons auf hohem Niveau stagniert, versuchen sich jüngere Musiker am „Nouvelle Chanson“

In den letzten zehn Jahren hat sich in der Musik Frankreichs Erstaunliches getan

VON REINHARD KRAUSE

Als das französische Elektronik-Duo Air im vergangenen Jahr für ein paar Konzerte nach Deutschland kam, gaben sich die beiden Musiker höchst unpatriotisch. Musikalisch, gaben sie in Interviews kund, käme aus Frankreich sonst nur Peinliches. Das war nicht nur reichlich hochnäsig gegenüber der hochkarätigen Konkurrenz aus dem eigenen Land – es war auch ein Geschmacksurteil aus dem popmusikalischen Neolithikum, genauer: aus jener Zeit, als sich französische Musiker mit Gewalt international gaben und auf Teufel komm raus ein chanson rock pflegten, das in der Tat nachgemacht und peinlich klang. „Fronkreisch, Fronkreisch …“, hahaha.

Dass sich in den zurückliegenden zehn Jahren in Frankreichs Musikszene Erstaunliches getan hat, scheint sich nur mühsam herumzusprechen, auch hierzulande. Immerhin: Vor drei Wochen ging in Berlin und Köln mit „Francophonic“ bereits das zweite Festival der frankophonen Musik über die Bühne, und bei der Popkomm gibt es einen Länderschwerpunkt Frankreich – mit Beiträgen nicht nur aus dem prosperierenden House-Sektor, sondern auch einem Abend zum nouvelle chanson.

Es geht also weiter aufwärts mit Musik aus Frankreich? Ja und nein. Während hierzulande das eine oder andere Album der nouvelle scène mit zum Teil erheblicher Verspätung auf den Markt gebracht wird, deuten sich links des Rheins im Bereich des neoklassischen Chansons erste Ermüdungserscheinungen an.

Zwar sind mit Vincent Delerm und Albin de la Simone noch einmal zwei Namen aufgetaucht, die aufhorchen ließen, doch die Zahl der bemerkenswerten Neuerscheinungen ist rückläufig. Stattdessen gibt es – Schicksal noch jeder musikalischen Bewegung – inzwischen Zuwächse bei den nicht ganz so talentierten Epigonen, die von den Plattenfirmen in der Hoffnung auf Mitnahmeeffekte flugs unter Vertrag genommen werden. Die „Amélisierung“ des Chansons schreitet voran.

Da wirkt es wie eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet ein alter Rocker wie der Flame Arno mit „French Bazaar“ (France) ein herrlich ungehobeltes Album veröffentlicht, das die Gehörgänge vom Schmalz befreit – mit Songs, die klingen, als wäre Tom Waits in ein Frühwerk der Sparks geraten („Chic et pas cher“).

Noch erfreulicher: „Rue Saint Louis en l’île“ (France), die neue Platte von Brigitte Fontaine. Das Formtief des Vorgängers „Kékéland“ ist überwunden, niemals in den vierzig Jahren ihrer Karriere wirkte die Exzentrikerin des Chansons wacher und – auch dies! – wollüstiger. Ob sie nun die unplatonische Verbindung zwischen Johnnie Walker und der Witwe Cliquot („Ich heirate nicht mehr!“) hochleben lässt, eine Piazzola-Komposition mit einem Grace-Jones-Rhythmus verschneidet oder einen sehr sehnsuchtsvollen, sehr sexuellen Liebesbrief von Simone de Beauvoir vertont – hier ist eine Sängerin am Werk, die sich um Moden und Schulen nicht mehr schert. Durch das Coverfoto mit der infantilen Gummibandfrisur zum Wolfsmantel sollte sich niemand irre machen lassen: Fontaine ist alles, bloß kein Schaf.

Eines der verblüffendsten neuen Alben gelang allerdings wieder einmal Benjamin Biolay, der mit seiner Frau Chiara Mastroianni ein Konzeptalbum für lange Autofahrten schuf. „Ho–me“ (Labels/EMI) muss man sich vorstellen, als trällerte und summte ein Paar, das nicht sonderlich gut singen kann, seine Lieblingslieder vor sich hin. Nur dass diese Songs bislang noch niemand kannte. Das Ergebnis klingt im höchsten Maße seltsam: angenehm schlaff und zugleich federleicht. Ein hübsches und gelungenes Experiment – aber im Grunde auch eine etwas ratlose Ehrenrunde vor der Suche nach neuen musikalischen Gestaden.

Diesbezüglich etwas mehr sorgen muss man sich um Philippe Katerine. Schon sein Album „8ième ciel“ verfranste sich zwischen Absurd-Humor und musikalischen Gemischtwaren, nun hat er seiner Freundin Helena mit „Née dans la nature“ ein Album geschrieben, das nach Kinderplatte klingt und dem Vergleich mit ihrem bisherigen Werk nicht standhält. Zum „Retour de France“-Abend auf der Popkomm wünschte man der schönen Helena eine üppigere Begleitband als die beiden Gitarristen, denen es vor drei Wochen beim Francophonic-Festival nicht gelang, ihren etwas trockenen Liedvortrag auf Popniveau zu heben.

Auch die sonstigen Acts des großen Frankreich-Abends bei der Popkomm spiegeln Glanz und Elend des „neuen“ Chansons. Matthieu Chédid, kurz „M“ (und nicht zu verwechseln mit den Schöpfern des Klassikers „Pop Muzik“), ist ein Rock-’n’-Pop-Clown in der Nachfolge des großen Michel Polnareff. Beim Titel seines dritten Albums „Qui de nous deux“ (Wer von uns beiden) kann man sich allerdings fragen, ob damit der Künstler Chédid und seine Kreatur M mit der comicartigen M-Frisur gemeint sein könnte. Symptome einer Identitätskrise im rosafarbenen Showanzug? Die Goncourt-Preisträgerin Andrée Chédid jedenfalls hat ihrem Enkel einen Song geschrieben, in dem das Show-Alter-Ego in den Schrank gehängt wird: „Je me démasque“, ich schmink mich ab. Die letzte Chance also, M und nicht Chédid auf der Bühne zu erleben?

Jérémie Kisling, auf der Popkomm in der Rolle der charmanten Neuentdeckung, spielt ebenfalls ein wenig Maskerade. Sein Erstlingswerk heißt wie seine Bühnenfigur: „Monsieur Obsolète“. Diese Selbstironie könnte gefährlich sein, denn tatsächlich beachtet das Album strikt die Grenzen des „Nouvelle Chanson“: hier ein bisschen verlängerte Kindheit, dort die ein oder andere Reverenz ans Easy Listening. Das ist alles grundsympathisch und gut gemacht, aber zumindest doch etwas … spät!

Gespannt sein darf man nach dieser geballten Ladung Niedlichkeit auf Valérie Leulliot, Sängerin und Zentrum der Gruppe Autour de Lucie. Leulliot ist viel zu sehr Dichterin, als dass sie sich an irgendeine Form von Uneigentlichkeit verlieren könnte. Ihr viertes Album heißt schlicht „Autour de Lucie“ und ist von einer Ernsthaftigkeit, die selbst noch hinter einem melancholischen Liebeslied eine Gesellschaftsanalyse vermuten lässt – und umgekehrt. Wird das „Nouvelle Chanson“ nun erwachsen? Und ist das nur gut so oder doch schade? On verra.

Auf zahlreichen Konzerten im Rahmen der Popkomm werden französische Künstler auftreten. Helena, Jérémie Kisling, Autour de Lucie und M spielen am Mittwoch, den 29. September, ab 20 Uhr in der Kalkscheune