: Auf Muschelsuche und Busschau
Die Welt und wie sie sich spiegelt und wie diese Spiegelung der Welt auf das Bewusstsein zurückwirkt, das die Welt betrachtet: Beim 46. Internationalen Leipziger Dokumentarfilmfestival konnte man sich wie ein Gast in einer irgendwie utopischen Medienwelt fühlen und viele wunderbare Filme gucken
von DETLEF KUHLBRODT
Das „46. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm“ war wunderbar. Am Sonntagabend endete es mit der Verleihung verschiedener „Vögel“, wie die alt verdienten Tauben in einem ARD-Kurzbeitrag am Tag der Eröffnung genannt wurden. Eigentlich sollte es das letzte Jahr von Fred Gehler sein, der das Festival nach der Wende geprägt hatte. Bis jetzt war die Stadt aber unfähig, einen Nachfolger zu finden. So ist alles unklar. Wütend prangerte der sonst eher zurückhaltende Festivalchef in seiner Eröffnungsrede „das Dominieren des Scheins, des So-Tuns-als-ob, die schleichend-intensiven Prozesse der Entwertung und Entgeistigung“ in der „so genannten Kulturgesellschaft Deutschlands“ an und mutmaßte, dass das wochenlang über die Vokabel „Scheißdreck“ in der Brandrede Rudi Völlers diskutierende „Mediendeutschland“ schon längst mit „Deutschland“ identisch sei.
Vielleicht hat der Schwachsinn im Mainstream der Medienwirklichkeit tatsächlich zugenommen. Wahrscheinlich ist es richtig, sich darüber aufzuregen, weil man sich ja tatsächlich fast terrorisiert fühlt, wenn man so herumzappt am Abend. Beim Festivalgucken hat man dann tatsächlich das Gefühl, zu Gast zu sein in einer irgendwie utopischen Medienwelt. In den Kinos gab es tolle, unterhaltende, lehrreiche Filme, und wenn man aus dem Kino rausging, schien die Sonne. Die Welt und wie sie sich spiegelt und wie die Spiegelung der Welt auf das Bewusstsein zurückwirkt, das die Welt betrachtet – dieses Thema zog sich durch viele der gezeigten Filme.
In seinem zweistündigen Film „Das Netz“ etwa recherchiert der Hamburger Regisseur Lutz Dammbeck dem so genannten UNA-Bomber hinterher. Er spricht mit Leuten aus dem Umfeld des 1996 verhafteten Mathematikprofessors Ted Kaczynski, der Anfang der Siebzigerjahre aus dem Unileben ausstieg, um dann wie Thoreau in den Wäldern zu leben und Manifeste gegen den technischen Fortschritt zu schreiben. Der Filmemacher trifft auf intellektuelle Exhippies, die auf Hausbooten leben, auf Künstler, ehemalige Acidheads und Softwareentwickler; auf Zivilisationskritiker und auf Leute, die unterstützt vom Pentagon das Internet entwickelten. Das Schreckensbild der einen, dass sich nämlich das menschliche Bewusstsein vorhergehenden technischen Entwicklungen anpasst und nicht umgekehrt, ist die Utopie der anderen und wird mit den gleichen Worten formuliert. Dr. David Gelernter, der durch eine Briefbombe des UNA-Bombers eine Hand und ein Auge verlor, glaubt an den Segen einer Weltverdopplung im Computer. Die Technikenthusiasten gehen davon aus, dass der menschliche Geist nicht nur wie ein Computer funktioniert, sondern ein Computer ist. Sie also machen keinen prinzipiellen Unterschied zwischen simulierter und wirklicher Welt, die sich ihrer Spiegelung anpassen sollte.
Des Weiteren geht es um LSD, Bewusstseinskontrolle, Kybernetik, höhere Mathematik, Wissenschaft, Kunst, Adornos Studien über den autoritären Charakter, und dazu läuft eine wunderbar verzerrte Version des Grateful-Dead-Klassikers „Death Don’t Have No Mercy“.
Das Motto des Festivals ist: „Sehen, was los ist“. Manche Filme versuchen ganz bescheiden Arbeitsprozesse zu zeigen, wie etwa der sehr schöne 20-minütige chinesische Film „9 Kilometer – Eine Straße ins Meer“. Dieser beobachtet vielleicht tausend Muschelsammler dabei, wie sie Tag für Tag über eine Straße, die nur bei Ebbe da ist, ins Meer gehen, um dort Muscheln zu sammeln. Andere, wie der Dokumentarist Sergei Lozniza, beobachten Menschen in einer endlos scheinenden Drehbewegung der Kamera, wie sie stundenlang auf dem Marktplatz einer russischen Kleinstadt auf den Bus warten, dies und das reden, und verdichten das Gesehene zu einer melancholischen Metapher über die Wiederkehr des immer Gleichen. Fast wirkt das zu perfekt poetisch, wird dann aber plötzlich gebrochen, als einer im nun endlich doch losfahrenden Bus der Kamera den Finger zeigt.
Manche Filme sind, wenn man sie sieht, ganz einfach. Wenn man über sie nachdenkt, wird es aber komplizierter. Der wunderschöne Footage-Film mit dem von Franz Jung entlehnten Titel „Technik des Glücks“ erzählt von dem Kohlekraftwerk Zschornewitz, das 1915 in Betrieb ging, lange Jahre das größte Kraftwerk der Welt war und Mitte der Neunzigerjahre abgerissen wurde. Größtenteils besteht der Film aus Amateurfilmen und Texten, die die ehemaligen Kraftwerker in Zirkeln schreibender Arbeiter verfasst hatten. Das verwendete Material ist wunderschön. Weil es von einer untergegangenen Welt berichtet, weil es in Super-8 gedreht wurde, vielleicht auch, weil die, die damals drehten, noch so jung und schön aussehen. Anders als in professionell hergestellten Bildern spürt man die Freude, mit der die Arbeiter filmten und sich selbst in Szene setzten. In dem, was einem professionellen Filmer als Fehler angekreidet werden würde, teilt sich Vergangenheit mit. Das ist sicher nostalgisch, hat aber mit der so genannten Ostalgie, dieser professionell kalkulierten Simulation des privaten Blicks auf den DDR-Alltag, nichts zu tun.
Um das komplizierte Verhältnis zwischen Realität und Abbild geht es in dem brasilianischen Film „Bus 174“ von José Padilha, der 133 Minuten lang von einer Busentführung in Rio de Janeiro berichtet. Ein Teil des Materials besteht aus den Aufnahmen von Fernsehsendern, die live stundenlang vom Ort des Geschehens berichteten; ein anderer Teil erzählt die Geschichte des Entführers, eines ehemaligen Straßenkindes, das den Mord an seiner Mutter mit ansehen musste und dann kriminell wurde. Vieles erinnert an die Gladbecker Busentführung. Der Regisseur hat das dokumentarische Material wie einen Spielfilm inszeniert mit spannungsreicher Musik und vielen Slow Motions vom Showdown sozusagen, bei dem eine Geisel zu Tode kommt. Undeutlich sieht man immer wieder den Tod und ist verstört, mehr noch von der obszönen Grenzüberschreitung des Regisseurs als von der sozialkritischen Geschichte, die wohl erst durch diese Grenzüberschreitung ihre Wirkung erzielt.