Yankees Heimkehr wird gefeiert

Landarbeiter und Mittelschichten erreichen gemeinsam den Rücktritt von Präsident Sánchez de Lozada. Doch nur die einen sind damit schon am Ziel

aus La Paz TOM GEBHARDT

Detonationen erschüttern die ganze Stadt. Die Bergleute feiern mit Dynamit. Gonzalo Sánchez de Lozada ist zurückgetreten. Roberto Chávez, Bergmann aus Huanuni, hört das vertraute Krachen von weitem. Er campiert mit vielen anderen seit Tagen in La Paz, der Hauptstadt Boliviens, um den verhassten Präsidenten mit dem Yankeeakzent zum Rücktritt zu zwingen. Jetzt ist es geschafft. Doch Chávez beobachtet still, wie nach und nach seine Kumpels in den Innenhof der Universität zurückkehren, die seit ein paar Tagen tausende von Minenarbeitern beherbergt. Echte Freude will trotz allen Triumphgefühls nicht bei ihm aufkommen.

Roberto gehen die Erlebnisse der vergangenen drei Wochen noch einmal durch den Kopf: Fast 300 Kilometer hat er hinter sich, teilweise auf dem Lastwagen, meist zu Fuß. Sein derbes Schuhwerk erzählt davon. Dann das erste Aufeinandertreffen mit dem Militär, sein Kollege José Luis wird erschossen, es folgen harte Kämpfe, vier weitere Tote bei der Ankunft in El Alto, viele Festnahmen, die Wut, die Entscheidung weiter zu kämpfen, bis die Regierung abtritt. „Es war klar, dass es nichts mehr zu verhandeln gibt. Gonzalo Sánchez de Lozada musste zurücktreten“, erklärt der Bergmann. Der Präsident habe weder für Arbeit noch für Lohn oder Gesundheit gesorgt. „Außerdem hat er unser Land, unsere Bodenschätze verkauft. Das Gleiche wollte er jetzt mit dem Erdgas machen.“

In den Wohnvierteln der Mittelschicht ist die Stimmung heiterer. In Sopocachi, im Gemeindehaus der Carmelitas, löst die Nachricht vom Rücktritt des Präsidenten spontane Freudentänze aus. Auch Ana María Campero, eine in Bolivien hoch angesehene Journalistin, ist mit dabei. Nachdem sich die Regierung für alle Forderungen des Volkes taub gestellt und schließlich demonstrierende Landarbeiter zu dutzenden erschossen hatte, waren auf ihre Initiative hin viele Bolivianer in Hungerstreik getreten. Zunächst einige wenige wie der prominente Liedermacher Luis Rico, dann Menschenrechtler, Künstler, Studierende. Dann immer mehr, nicht nur in der Hauptstadt, im ganzen Land, schließlich auch im Ausland. „In den letzten drei Tagen müssen etwa tausend Menschen in Hungerstreik getreten sein, damit Sánchez de Lozada endlich zurücktritt“, sagt Campero zufrieden.

Jetzt verfolgt sie über den Fernseher, wie die beiden Kammern des Kongresses den Rücktrittsgesuch des Präsidenten mehrheitlich annehmen. Der Bildschirm ist geteilt. Die eine Hälfte zeigt den Kongress, die andere den Flughafen von Santa Cruz. Eine Maschine von Lloyd Aero Boliviano rollt über die Startbahn. Darin sitzt der, über den im Parlament gerade abgestimmt wird: Gonzalo Sánchez de Lozada verlässt das Land in Richtung Miami.

Für die meisten Bolivianer ist das keine Überraschung. Sie sahen in dem Präsidenten gar keinen echten Landsmann. Sánchez de Lozada wuchs in den Vereinigten Staaten auf. Und sein starker Akzent galt auch als typisch für seine Wirtschaftspolitik: das Bedienen ausländischer Interessen.

1985 arbeitete er für die Regierung von Víctor Paz Estenssoro, der auf Druck von Weltbank und Währungsfonds das Strukturanpassungsprogramm für Bolivien durchsetzte. Die von Sánchez de Lozada als Planungsminister mit ausgearbeitete Verordnung 21060 ist seither das verhasste Symbol für Massenentlassungen und Neoliberalismus. Nun auch Parteichef der Nationalrevolutionären Bewegung (MNR) setzte Sánchez de Lozada in seiner ersten Amtszeit als Präsident bis 1997 ein Reformprogramm durch, das im Ausland mehr gefeiert wurde als im eigenen Land. Neben Maßnahmen zu mehr Demokratisierung und einer Bildungsreform wurde die Staatswirtschaft privatisiert, unter anderem die profitablen Erdölraffinerien Bolivens. Seitdem sieht der Staat kaum mehr etwas von deren Einnahmen.

Im vergangenen Jahr wurde Sánchez de Lozada erneut zum Präsidenten gewählt. Von Anfang an sah er sich einer starken Opposition gegenüber. Doch die verschiedenen Protestgruppen des Landes stritten zunächst jede einzeln und ließen sich – wie auch in den Jahren zuvor – häufig gegeneinander ausspielen.

Wie aus der Opposition eine nationale Bewegung wurde, beschreibt der Politikwissenschaftler Álvaro García Linera als Prozess mit drei Phasen: „Erst gab es isolierte Forderungen. Dann stellten sich alle hinter die Forderung, das Gas nicht unveredelt und ohne Gewinn zu exportieren. Schließlich war es der Tod – über 70 Menschen wurden im Auftrag der Regierung erschossen –, der die Menschen unter einem Motto vereinte: Weg mit der Regierung!“

Der Protest begann mit dem Hungerstreik einiger Altiplanobewohner, die gegen die Inhaftierung eines Dorfvorstehers protestierten. Gleichzeitig wurde in El Alto, der Nachbarstadt von La Paz, gegen die Erhebung von Steuern auf neu besiedeltes Land gestreikt. Nach und nach verbanden sich die verschiedenen Forderungen – höhere Gehälter für Lehrer, sofortiger Stopp der Vernichtung der Kokafelder etc. – unter einem gemeinsamen Slogan: Industrialisierung des Erdgases. Denn die Regierung von Sánchez de Lozada wollte nun auch das in den vergangenen Jahren entdeckte Erdgas unveredelt verkaufen und den Export über einen chilenischen Hafen abgewickeln. Ausgerechnet Chile, das Bolivien vor rund 120 Jahren im so genannten Salpeterkrieg den Meereszugang geraubt hatte.

Immer mehr Ortschaften im Hochland, dem Altiplano, schlossen sich dem Protest an und blockierten die Straßen. Viele Menschen wurden von der Außenwelt abgeschnitten. Der Verteidigungsminister gab den Befehl, Touristen mit Gewalt aus dem eingeschlossenen Ort Sorata zu evakuieren. Als sich die Blockierer in Warisata wehren, werden die ersten vier Campesinos erschossen.

Von diesem Moment an beginnen Blockaden im ganzen Land. Bergleute, Landarbeiter und Kokabauern verabreden sich zum Marsch auf La Paz. Die Hauptstadt wird komplett isoliert. Nach wenigen Tagen geht das Benzin aus, die Stadt steht still. Das Militär schießt den Weg für zwei Tanklastwagen frei. Als die Marschierer das Zentrum erreichen, haben 26 Menschen ihr Leben verloren. „Das war der Moment, in dem sich auch die Mittelschichten dem Protest anschloßen“, sagt der Politologe García Linera. „Tod und Trauer haben die Mauern zwischen den Schichten eingerissen.“

Für die Journalistin Campero ist das Ziel erreicht. Sie verfolgt im Fernsehen, wie der bisherige Vize Carlos D. Mesa Gisbert das Präsidentenamt übernimmt: „Ich möchte dem Staat dienen und nicht – wie andere – mich des Staates bedienen“, verspricht Mesa in seiner Antrittsrede. Roberto Chávez, der Bergmann, ist noch skeptisch: „Wichtig ist nicht, dass ein Kopf ersetzt wird. Die Politik muss sich verändern.“ Dann geht er, um seine Sachen zu packen.