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Archiv-Artikel

Am Rande des Rollfelds ist der Jubel grenzenlos

Die verpatzte Tempelhof-Stilllegung freut manche und ärgert viele. Oder umgekehrt? Direkt am Flughafenzaun schnalzen jedenfalls die Kronkorken

Hinterm Rollfeld wird kräftig gefeiert. Im Gartenlokal „Zur Flugschneise“ an der Oderstraße, unmittelbar am Flughafenzaun, prosten sich die Stammgäste zu. Kein Wunder: Für sie ist Tempelhof Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens. Und die „Flugschneise“ ihre Anlaufstelle.

Henry, der Wirt, der hier seit 17 Jahren Flaschenbier und Eis verkauft, kann Flugzeugtypen anhand ihres Motorenlärms erraten. Manchmal tritt Rolf gegen ihn an. Ohne Erfolg: Ob Cessna, Boeing oder Fokker, Henry gewinnt immer. Im Laufe der Jahre ist der Herr über Kartoffelsalat und Bockwurst nebenbei zum Luftfahrtexperten geworden. Alles hat er über Tempelhof gelesen, unterm Tresen stapeln sich Ausgaben eines Luftfahrtmagazins. Und der aktuelle Flugplan. Da kann er jederzeit nachschlagen, was gerade im Anflug ist.

Rolf kann nicht so gut Flugzeuge raten. Aber fachsimpeln. Zeit für Privates hat der Kleinunternehmer, der „Spaßfahrzeuge“ vermietet, kaum. Aber ein-, zweimal „Flugschneise“ in der Woche muss sein. Für den Niedergang des Airports hat Rolf, der Betriebswirt, eine Erklärung: „Die Regierenden schmeißen oft nur das Geld raus. Private können besser rechnen.“ Henry sieht das ähnlich. Dem florierenden Gewerbe rund um Tempelhof habe man mit dem ewigen Gerede von der Schließung den Garaus gemacht. Richtig teuer wird es, glaubt Rolf, wenn der Flughafen tatsächlich geschlossen wird und die Hallen leer stehen.

Was Expertenwissen angeht, steckt Thomas die beiden locker in die Tasche. In eine Bierkneipe will der schmächtige Anzugträger nicht so recht passen. Aber der Flughafen ist für den Rechtsanwalt seit seiner Kindheit ein Hobby, wenn nicht eine Passion. Schon mit seinem ersten Fahrrad radelte er zum Eiskaufen in die „Flugschneise“. Und seit 25 Jahren verbringt er „jede freie Minute“ am Flughafen. Viele tausend Flughafenfotos hat er archiviert. Das Gartenlokal ist auch für Thomas unverzichtbarer Treffpunkt: „Hier trifft man Bekannte, berichtet sich Vorkommnisse, die über die Woche am Flughafen passiert sind.“

Thomas kann erst mal aufatmen. Wäre Tempelhof stillgelegt worden, hätte sich das Objekt seiner Begierde wohl in eine „über lange Jahre ungenutzte Brachfläche“ verwandelt. Wie die Zukunft des Flugfelds aussehen soll? „Der Flughafen muss erhalten bleiben“, sagt Thomas. Nicht nur für mich persönlich, vor allem für Berlin.“ Auch er hat sämtliche verfügbare Literatur verschlungen. Aber wie es wirklich ist, Flugzeuge mitten in Berlin starten und landen zu lassen, weiß nur Rolf. Er hat das zu Hause schon tausendfach ausprobiert. Mit dem Flugsimulator.

Peter wohnt in der Einflugschneise. In der „Flugschneise“ verbringt er seinen Feierabend. Wenn zwischen fünf und acht besonders viele Maschinen landen, entspannt er sich bei Weißbier und Wurst. Dass sich andere Anwohner gestört fühlen, versteht er nicht. „Wie die Amerikaner damals mit ihren Qualmdingern geflogen sind, da kam ’ne Staubwolke raus!“, erinnert er sich. Heute haben alle Wohnungen in der Nachbarschaft schalldichte Fenster. Na gut, besonders umweltfreundlich sind die Flugzeuge auch heute nicht: „Einmal die Fensterbretter mit ’nem Lappen rüber – janz schwarz.“

Mit Henry, Thomas und Rolf amüsiert sich Peter jetzt über die gescheiterten Schließungspläne des Senats. Der hatte ja noch nicht mal ein vernünftiges Folgekonzept! Über den früheren Vorschlag, die 450-Hektar-Fläche in Grundstücke für Eigenheime umzuwandeln, kann Peter nur lachen. Bei Führungen hat er die Katakomben des Flughafens besichtigt: Kilometerlange Versorgungsschächte verbergen sich dort, Eisenbahntunnel, sogar ein Wasserwerk. „Dit allet sprengen? Dit wird teuer!“, glaubt Peter.

Klaus betrachtet das eher sentimental. Für ihn ist der Flughafen seine Jugend. Über die Schule in der Emser Straße donnerten die Flieger und zwangen die Lehrer zu Sprechpausen. Das war in den 70ern. Noch heute kommt er gern und träumt den Reinhard-Mey-Traum: „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.“ Warum „die da oben“ das anders sehen, weiß er nicht. Aber Tresennachbar Alfred: „Es ist ’ne politische Sache. Da werden wir gar nicht gefragt.“

Ende Oktober macht Henry den Kiosk bis April dicht. Und verkauft erst mal Weihnachtsbäume. Der Garten hält dann Winterschlaf, und die Freunde der „Flugschneise“ freuen sich auf die nächste Saison: einen Sommer noch am Rande des Rollfelds. Wenigstens noch einen. DANIELA NOACK