: Der Dichter dichtet dicht
Ein Entertainer, ein Oberlehrer: Wolf Biermann biermannisierte Shakespeares Sonette und trug sie grunzend im BE vor
„Warum bloß trägt mein Vers nen abgetragnen Rock / Spreizt sich nicht groß im Ton vom allerletzten Schrei / Der Literaten? Warum habe ich kein’ Bock / Auf zeitgeisthochgestylte Modereimerei?“ Was das ist? Man käme nicht drauf: Shakespeares Sonett Nr. 76, gespreizt im Ton vom allerletzten Schrei durch Wolf Biermann. Vor 70 Jahren übersetzte Karl Kraus das so: „Warum entbehrt mein Vers der neuen Pracht / und dient nicht dem Geschmack der letzten Mode? / Warum ist meine Form nicht nachgemacht / der ausgesucht modernen Wortmethode?“ Man kann leicht entscheiden, wer hier wichtigtuerische Modernismen montiert und wer übersetzt.
Biermann hat Shakespeare nicht übersetzt, sondern biermannisiert. Er hält Strophen und Versmaß ein, trifft auch den Sinn der Gedichte ungefähr – und achtet im Übrigen drauf, dass das Ergebnis stark nach Biermann klingt. „Müd müd von all dem schrei ich nach dem Schlaf im Tod / Weil ich ja seh: Verdienst geht betteln hier im Staat“, dichtet Biermann, Kraus dagegen: „Den Tod ersehn’ ich, müd es anzusehn: / wie sich Verdienst verhüllt im Bettlerkleide“. Shakespeare: „Tir’d with all these, for restful death I cry / As to behold desert a beggar born“ – kein Wort vom „Staat“; den hat dem Biermann wohl seine alte DDR-Staats-Macke eingegeben.
Das Missverständnis setzt sich fort in den Vertonungen einiger Sonette, die Biermann im Berliner Ensemble sang. Er intonierte jeweils die Melodie kurz ohne Text, krächzte ein wenig, rezitierte und sang schließlich das ganze Lied. Beim „Einsingen“ dachte ich: Könnte ein schöner Biermann-Song werden. Wurde aber ein seltsam zersägter Trivial-Shakespeare in Biermann’- scher Musik – und das Heulen, Grunzen, das zu Biermann-Songs so passt, wirkt selbst bei diesem Shakespeare der Schwundstufe nur noch albern. Was Biermann zwischendurch an Wissen über die Sonette vorträgt, war bescheidenstes Anglistik-Proseminar. Der geniale Entertainer als biederer Oberlehrer – erklärlich ist all das nur durch Biermanns Eitelkeit, die ihn jetzt offenbar dazu verführt, sich für Shakespeares deutschen Statthalter auf Erden zu halten. Immerhin, im Nachwort seiner Übersetzungen verhilft er uns zu einer tiefen Erkenntnis über W.S.: „Dieser Dichter dichtet dermaßen dicht.“ Ein Poet, dem einiges für die Ewigkeit gelungen ist, ein Sänger, dem in Deutschland kaum einer das Wasser reichen konnte, fängt nun wohl gänzlich an zu spinnen. KLAUS NOTHNAGEL