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Archiv-Artikel

Nicht lesen! Neuer Bildungsreport da. Doch lesen!

Bildungsforscher, Typ C: Wie Kai S. Cortina einmal 900 Seiten schrieb und dann öffentlich davon abriet, sein Standardwerk ganz zu lesen

Werbung wollte er nicht. Als Kai S. Cortina den neuesten Bildungsbericht vorstellte, gab er einen merkwürdigen Ratschlag. „Ich kann Ihnen nicht empfehlen, dieses Buch von vorne bis hinten durchzulesen.“ Das sagte kein anderer als der Herausgeber und Erstautor des „maßgeblichen Bildungsreports“.

1979 kam das Buch auf den Markt, die letzte Auflage stammt von 1994, nun also die neue. Aber vielleicht lohnt es, zunächst über den Autor nachzudenken. Cortina dürfte die neue Spezies Bildungsforscher sein, Typ C sozusagen. Typ A und B konnten wir bei den Pisa-Berichten kennen lernen. Typ A ist der mittelalte Herr, der den Impuls zur Veränderung ab- und an List zugelegt hat. Der Chef des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung etwa, Jürgen Baumert.

Baumert ist viel zu schlau, um sich von Pressefritzen und Politjunkies zu Ja-nein-Antworten reizen zu lassen. Wenn Eltern genervt wissen wollen, wie man die verkorkste deutsche Schule verbessern könnte, jetzt und sofort, wird Baumert gütig und komplex. Aber in seiner Antwort steckt immer eine Botschaft. Etwa: Die Hauptschule als 10-prozentige Restschule, die alle sozialen und kognitiven Risikopersonen als Schüler aufnimmt, macht keinen Sinn. Dass die Hauptschule an sich Scheiße ist, würde Baumert nie sagen – dafür kennt er die große bayerische Hauptschule und die entscheidungsunfähigen, aber kritikwütigen Kultusminister zu gut.

Typ B ist Andreas Schleicher, Mister Pisa von der OECD in Paris. Schleicher kann Klartext reden, was einzelne Schulformen angeht – weil er stets eine systemische Gesamtlösung im Blick hat. Der Komparatist weltweiter Schulsysteme kann auch sonst gelassen sein. Er kennt die erbärmliche Rolle, welche die Kultusminister in den Gremien der OECD spielen. Keine Gefahr.

Typ C oder Typ Cortina schließlich hat womöglich einen aussichtsreicheren Karrierestart hingelegt als Typ A und B. Zu sagen hat er dafür umso weniger. Der Mann ist jung, er hat sich an eine Uni in den Staaten davongemacht. Er könnte also reden, könnte sagen, was falsch gelaufen ist mit den Schulen in Deutschland. Aber er tut es nicht. Nicht in der Öffentlichkeit, begründet er, nicht zu aktuellen politischen Sachverhalten. Aber wo und zu welchem Zeitpunkt denn sonst? Wenn alles prima läuft? Wenn alle wissen, wie wir 25 Prozent Leseschwache abbauen können? Typ Cortina ist Typ C, ist Typ Clandestin, der Vertreter einer Geheimwissenschaft, die nichts verrät von seinen Erkenntnissen. Der 900 Seiten schreibt und zum Nichtlesen rät.

Ach ja, das Buch. Sollten Sie lesen, unbedingt. Empirische Pisa-Ergebnisse, erstmals für die ganze Republik mit einer institutionellen Analyse verbunden.

Cortina u. a. „Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland“. Hamburg, Rowohlt 2003, 16,90 €