: Einige sind ungleicher als andere
Während sich Attac der Agenda 2010 zuwendet, lagert sich die Globalisierungskritik im kollektiven politischen Gedächtnis ab. Hartnäckige Erörterungen zur Frage, welche ihrer Fehler akzeptiert werden können – und welche eher auf Versagen hindeuten
von DIETMAR BARTZ
Das Merkur-Sonderheft über „Kapitalismus oder Barbarei“ selbst tut es. Die Rezensionen und Reaktionen darauf tun es auch. Zwischen Freunden und Feinden der weltwirtschaftlichen Verflechtung entwickelt sich die Debatte nicht am gemeinsamen Objekt, sondern an der Haltung im jeweils anderen Lager. Das ist legitim und identitätsstiftend, aber auch ein wenig langweilig, was die Sache angeht. Der in viel Wortgewalt und manches Wortgeklingel gekleidete Vorwurf lautet: Die andere Seite sei vom Verlust intellektueller Hegemonie bedroht, müsse deshalb Flagge zeigen, und nur das sei ihr Grund für die Beteiligung am Streit. Ironischerweise erheben diesen Vorwurf beide Fraktionen wechselseitig.
Zugleich ist das Objekt, die Weltwirtschaft, seit zwei Jahren in ruhigerem Fahrwasser angekommen. Weder explodieren derzeit die Börsenkurse noch die grenzüberschreitenden Finanzströme. Etwas verzögert verhallt nun auch der Globalisierungsalarm; die Bewegung mit ihren eingängigen Slogans hat ihren Höhepunkt überschritten, das Attac-Netzwerk wendet sich der Agenda 2010 zu und verweist die Weltwirtschaft auf Rang zwei. Aber in Deutschland hat sich die Globalisierungskritik im politischen Verständnis von Millionen Menschen verankert, im (westdeutschen) kollektiven linken Bewusstsein bildet sie neues Sediment auf älteren, vor 25 beziehungsweise 35 Jahren abgelagerten Schichten wie der Ökologie und dem Internationalismus. Die Frage ist, ob die Globalisierungskritik das verdient. Genauer: welche Globalisierungskritik das eigentlich verdient. Die Erkenntnis jedenfalls, dass der Zustand der Welt wenig erfreulich ist, taugt nicht als Beweis für die Richtigkeit der These, dass dies an zunehmender weltweiter Verflechtung liegt.
Auf den ersten Blick makaber, aber auch auf den zweiten immer noch wahr: Die These, dass das Einkommen der Welt immer ungerechter verteilt wird und die weltwirtschaftlichen Machtverhältnisse daran schuld sind, ist falsch. Tatsächlich nimmt der „Gini-Koeffizient“, Hauptzeuge für die grundsätzlich inhumanen Folgen globaler kapitalistischer Verflechtung, nicht mehr zu, sondern ab. Die Messzahl, 1912 vom italienischen Ökonomen Corrado Gini entwickelt, definiert das Verhältnis zwischen dem ärmsten und dem ebenso großen reichsten Segment der Bevölkerung. Seit den 50er-Jahren hat sich diese Schere immer weiter geöffnet; zunehmende Ungleichheit ist zu einer weithin anerkannten Haupttendenz der globalen Entwicklung geworden. Nun aber schrumpft der globale Gini-Koeffizient, aufgrund des auf marktwirtschaftlichen Reformen beruhenden Wachstums in Ostmitteleuropa, Vietnam, Bangladesch, Brasilien, Indien und vor allem in China und aufgrund des damit zusammenhängenden Wohlstandzuwachses der oberen Unterschichten dieser Staaten. Dafür spreizen sich die Einkommen in den einzelnen Ländern selbst: Der jeweils nationale Gini-Koeffizient wächst sowohl sozial als auch im Vergleich der Landesteile untereinander. Dass es in China so ruhig bleibt, liegt nicht etwa an einer gelungenen Umverteilungspolitik, sondern am schieren Ausmaß des Wachstums, von dem auch Benachteiligte noch profitieren. Je ungleicher es also in der bevölkerungsreichsten Volkswirtschaft der Erde zugeht, umso gleicher wird es insgesamt auf der Erde.
Das ist kein apartes statistisches Phänomen, sondern entspricht der globalen Entwicklung bei der Hungerbekämpfung: Auch dass äußerste Armut weltweit rückläufig ist, kann die schnell wachsende chinesische Marktwirtschaft als Erfolg verbuchen. Hartnäckig hält sich nun die Behauptung, dass die Erfolge Chinas und – in geringerem Maße auch Indiens – auf nationalkapitalistischen Konzepten beruhen, ihre Fortschritte also nicht als positive Folgen der Globalisierung betrachtet werden dürfen. Abgesehen davon, dass dies eine für Systemkritiker erstaunliche Unterscheidung zwischen „gutem“ und „bösem“ Kapitalismus ist, liegt sie seit zehn Jahren falsch. Die Bedeutung ausländischer Direktinvestitionen, des Außenhandels und der Infrastrukturentwicklung in China übersteigt die Werte mancher EU-Länder deutlich. Und würde die indische Wirtschaft schneller reformiert werden, könnten weitere hundert Millionen Menschen auf Vorteile aus der Globalisierung hoffen. Wer allerdings die zunehmende Ungleichheit in China ablehnt, muss sagen, wie er verhindern will, dass das alte Elend einer erstickenden Staatswirtschaft zurückkehrt.
Bleibt, sich die Welt in Einzelfällen anzuschauen und Liberalisierung, Privatisierung oder Weltmarktkonkurrenz nicht gleich zu verteufeln. In Gegenrichtung zeigen sich übrigens Weltbank und Internationaler Währungsfonds, ursprünglich Parteigänger einer enthemmten Globalisierung, durchaus lernbereit (auch wenn sie lange dazu gebraucht haben). Der Generalverdacht der Protestbewegungen jedenfalls, grundsätzlich seien freie Märkte das Problem, ist ebenso haltlos wie das Generalversprechen der Neoliberalen, grundsätzlich seien freie Märkte die Lösung.
Wie die gelegentlich wohlwollende Erwähnung des Nationalkapitalismus zeigt, haben die Globalisierungskritiker ein weiteres Großproblem: ihren fast demütigen Respekt vor nationaler Souveränität. Für sie kommt die Grenzüberschreitung kaum in Frage, Drittweltregierungen, die als Verbündete gegen die reichen Länder des Nordens taugen, good governance abzuverlangen: etwa die Achtung der Menschenrechte, sinkende Militärausgaben und wachsende Bildungsinvestitionen, die Bekämpfung der Korruption, aber auch die Bereitschaft zu Wirtschaftsreformen nach innen. Allenfalls kleiden sich Proteste gegen schlechte Arbeits- und Produktionsbedingungen in der globalisierten Welt in die protektionistische Forderung von Importverboten – und das ist nichts anderes als die handelspolitische Seite der intellektuellen Nichtbefassung mit den Ansprüchen anderer Volkswirtschaften.
Im Jubel über das Scheitern der Welthandelsrunde von Cancún blieb wenig beachtet, dass in einem Gutteil der widerspenstigen Drittweltländer – die dort erstmals erfolgreich gegen die Industriestaaten zusammengehalten hatten – wirtschaftliche und politische Miseren herrschen, für die die Regierungen dieser Länder selbst verantwortlich sind. Das reicht von Venezuela über Pakistan bis nach Ägypten.
Die etablierten Nichtregierungsorganisationen, die auf den großen internationalen Konferenzen als Beobachter teilnehmen, teilen hingegen die Regierungen längst nicht mehr nach Tätern und Opfern ein; sondern sie agieren taktisch, legitimerweise. Bei Globalisierungskritikern im engeren Sinne ist das anders: Hier trifft man noch allerlei Rechtfertigung für schlimmste Diktatur und Misswirtschaft. Dies lässt sich an der Debatte um den Schuldenverzicht zeigen, für die die Kriterien der good governance schlicht nicht anerkannt werden. Wer etwa nach den Gründen für die Wirtschaftskatastrophe und die Hungersnot in Simbabwe fragt, wird sicherlich schnell mit den Spätfolgen des Kolonialismus im südlichen Afrika vertraut gemacht, bestenfalls noch mit einer Landreform, die in der Umsetzung Probleme bereite. Aber kaum ein Wort fällt über die hemmungslose Selbstbedienung und die Unfähigkeit der Clique um den einst als Befreier gefeierten Staatspräsidenten Robert Mugabe, die Simbabwe in den Untergang treibt. Viel Empörung herrscht dagegen über die schlimme Lage Argentiniens, als ob es eine Entscheidung der USA oder des Internationalen Währungsfonds gewesen wäre, die Landeswährung so lange an den Dollar gebunden zu halten. Dass die argentinische Regierung die nötigen Finanzreformen erst nicht wollte und dann nicht mehr umsetzen konnte, bis der Zusammenbruch da war: alles kein Thema.
In diesem Zusammenhang muss an eine Frage erinnert werden, die von den Befürwortern der Tobin-Steuer bis heute nicht schlüssig beantwortet ist. Wenn mit den Abgaben auf grenzüberschreitende spekulative Finanzströme ein milliardenschwerer Topf geschaffen wird, aus dem Entwicklungsprojekte finanziert werden – wer teilt die Mittel zu? Wer legt die wirtschaftlichen und politischen Kriterien dafür fest? Oder gerät auch hier die good governance in Fortfall und bekommt, wer die Macht hat, auch das Geld?
Im eingangs erwähnten Merkur-Band stellte einer der Autoren etwas unsystematisch die Frage, welche Fehler des Kapitalismus eigentlich zugelassen werden könnten und welche auf sein Totalversagen hindeuteten. Als Antwort der Angesprochenen darf man unterstellen: Der Kapitalismus macht keine Fehler, er ist der Fehler. Die Frage lässt sich auch umkehren: Welche Fehler der Globalisierungskritik können eigentlich akzeptiert werden und welche deuten auf ihr Totalversagen hin? Eine ähnlich rigorose Antwort verbietet sich vor allem aufgrund ihres Verdienstes, das öffentliche Interesse in einem vorher nicht für möglich gehaltenen Ausmaß auf die Probleme der Weltwirtschafts- und Welthandelspolitik gelenkt zu haben. Ihre für zwei, drei Jahre so mobilisierungsfähige Deutungshoheit haben die Globalisierungskritiker allerdings verloren – wegen Fortfalls der Geschäftsgrundlage.