: Kein Lernen im Gleichschritt
Die Waldorfschulen wollen sich in die Bildungspolitik einmischen – und denken neu über ihre 85 Jahre alten Grundsätze nach: Schulautonomie und Integration gehören bei Steiner immer schon dazu, ebenso der projektartige „Epochenunterricht“
Bremen taz ■ Die Waldorfianer sehen sich bildungspolitisch voll auf der Höhe der Zeit. „Die hektische Betriebsamkeit der Kultusministerien nach PISA und die um sich greifende Verunsicherung der Elternschaft zeigen, dass es an der Zeit ist, die Waldorfpädagogik einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen.“ In Deutschland besuchen heute ein Prozent aller Kinder und Jugendlichen eine der circa 200 privaten Waldorfschulen.
Zeit ihres Bestehens, betont Sabine Frenzen von der Freien Waldorfschule in Bremen-Sebaldsbrück, wollte die Waldorf-Bewegung das Bildungswesen aus der staatlichen und wirtschaftlichen Bevormundung befreien. Dieser Anspruch sei nach wie vor aktuell.
„Wem soll Schule nützen? Zwischen Terror der Ökonomie und ganzheitlicher Bildung“ war denn auch der Titel einer Podiumsdiskussion anlässlich des 85. Geburtstages der ersten Waldorfschule, die 1919 von dem Stuttgarter Zigarettenfabrikanten Waldorf-Astoria gegründet wurde. Der Vertreter der Handelskammer Bremen verstand den Titel nicht als Anspielung auf interne ökonomische Zwänge der Privatschulen, sondern als Kritik an bildungspolitischen Forderungen der Wirtschaft – er sagte aus Protest ab.
„In der Politik hat Schule erst jetzt wieder Hochkonjunktur, wo Deutschland wirtschaftlich nicht mehr an der Spitze steht“ meint Walter Hiller vom Bund der Freien Waldorfschulen. Und wenn heute in verschiedenen internationalen Studien immer wieder die frühe Auslese an staatlichen Schulen in Deutschland kritisiert werde, dann bestätige das nur das Waldorf-Konzept. Gleiches gelte für die Idee der Ganztags-Schulen. Die Waldorfianer sehen eines ihrer pädagogischen Prinzipien auch durch die Diskussion nach dem Pisa-Schock bestätigt. Selbstverwaltung der Schulen, Integration verschiedener Begabungen und Förderung musischer Bildung gehören genauso dazu wie der handwerkliche Unterricht, von dem sich die Steinersche Pädagogik die Förderung der lebenspraktischen Orientierung der Jugendlichen verspricht. „Doch in Deutschland“ ärgert sich Hiller, „braucht es Jahrzehnte, ehe die Erkenntnisse der Erziehungswissenschaft durch die Schulbehörden sickern.“
Die Vertreter der so geschmähten „Staatsschulen“ sehen das freilich anders. Hier in Bremen, verteidigt sich Cornelia von Ilsemann, Senatsrätin im Bildungsressort, hätten die Schulen mehr Rechte als in anderen Bundesländern. Sie müssten sie nur nutzen – und voneinander lernen. Staatliche Schulverwaltung bedeute kein „Lernen im Gleichschritt“. Jedoch sei der Staat dafür verantwortlich, dass überall gewisse Mindeststandards erreicht würden.
Zwar sehen die Waldorfschulen sich auf künftige PISA-Tests gut vorbereitet. Doch sind auch sie in der Bildungspolitik unter Druck geraten. Einerseits lehnen die Waldorfianer eine Verkürzung der Schulzeit aus pädagogischen Gründen ab. Wer eine solche „Turbo-Oberstufe“ einführe, sagt Hiller, der stelle nicht den Menschen in den Mittelpunkt, sondern die Interessen der Ökonomie. „Anderseits müssen auch wir uns fragen, ob nicht die Lehrpläne eingedampft werden können, um weiterhin eine gute Marktposition zu haben.“ Ökonomische Zwänge also, die in die Waldorf-Schule hinein regieren.
Am Ende, sagt Hiller, werde es vor allem darauf ankommen, was denn eigentlich die Eltern wollten: „Das ist schwer abzuschätzen“. Die Antwort des Podiums in dieser Frage war einhellig: „Vielfalt“. Jan Zier