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Archiv-Artikel

„Vier Montagsdemos hätten gereicht“

Die Proteste gegen die Arbeitsmarktreformen ebben stetig ab. Zur bundesweiten Großdemo wollen die Hartz-Gegner heute noch einmal auf Berlins Straße ziehen. Wie der Widerstand danach weitergehen soll, ist unklar. Protestforscher Dieter Rucht sagt, was beim Montagsprotest falsch gelaufen ist

taz: Sie waren 1968 bei den Studentenprotesten aktiv. Was empfinden Sie, wenn Sie jeden Montag so viele Menschen auf der Straße ziehen sehen?

Dieter Rucht: Auf keinen Fall werde ich nostalgisch. Die Studentenbewegung hat mich damals zwar beeinflusst. Ich war aber nie ein Aktivist des harten Kerns. Wenn ich die Montagsdemonstranten heute sehe, habe ich ein Gefühl der Vertrautheit. Die Transparente, die Parolen – irgendwie sind die Demo-Bilder in all den Jahren ähnlich geblieben.

Sie sehen im Hartz-IV-Protest keine neue Qualität?

Hartz IV hat durchaus neue Schichten für den Protest erschlossen. Viele Leute, die mitgehen, sind vorher nie auf einer Demo gewesen. Das ist schon bemerkenswert. Zugleich sind es aber Gelegenheitsdemonstranten. Die fahren mit der U-Bahn zur Demo, dann aber wieder nach Hause. Mehr kommt von ihnen nicht.

Den typischen Montagsdemonstranten beschreiben Sie als männlich, 50 Jahre alt und ostdeutsch. Bei den Organisatoren hingegen ist es der jugendliche Attac-Aktivist, meist aus dem Westen. Ist es nicht ein Problem, dass zwischen Organisatoren und Demo-Masse Welten liegen?

Die Protestkultur ist in der Tat sehr unterschiedlich. Viele, mit denen ich gesprochen habe, finden das Politspektakel mancher Aktivisten abstoßend. Sie schätzen es nicht, wenn rote Fahnen mit Hammer und Sichel präsentiert werden.

Wegen Hammer und Sichel bleiben Leute von den Montagsdemos weg?

Zumindest ist das auch ein Grund. Zum Beispiel habe ich vor drei Wochen mit einem jungen Demonstranten gesprochen, der eine DDR-Fahne zeigte. Darauf stand: Zurück in die Zukunft. Zunächst dachte ich, es sei Ironie. Dem Träger war es aber todernst. Er wollte die DDR originalgetreu wieder haben. Sogar die Schüsse an der Mauer seien richtig gewesen. Hat man mit solchen Leuten Gemeinsamkeiten?

Wie hoch ist der Einfluss solcher Gruppen?

Sie bestimmen maßgeblich das Demo-Bild. Man könnte meinen, die Revolution bricht demnächst aus, obwohl viele Teilnehmer mit diesen Parolen überhaupt nichts anfangen kann.

Wie ist dann der Zulauf auf den Block der linksorthodoxen Splitterpartei MLDP zu erklären?

Sie hat ja nicht als MLPD Zulauf. Sie war eben clever genug, mit dem Alex einen traditionellen Demo-Treffpunkt zu einer Zeit zu okkupieren, der viele Leute anzieht. Das Gros der Ostberliner weiß gar nicht, was sich hinter den Kulissen abspielt.

Aber spätestens nach dem dritten oder vierten Mal hätten sie doch merken müssen, wer auf dem Lautsprecherwagen steht?

Die meisten derer, die über die MLDP Bescheid wissen, bleiben diesem Demoblock auch fern. Aber nicht nur dem Block, sondern den Demos im Allgemeinen. Die Leute sagen sich: Unfassbar, was da läuft. Zum gleichen Anliegen zwei getrennte Demo-Züge, die sich auf der Bühne streiten. Und dann auf der Bühne ein Streit darüber, ob die bundesweite Großdemo nun am 2. oder am 3. Oktober stattfindet. Das törnt die Leute einfach ab.

Und zwar nicht nur den betroffenen Ossi, sondern auch protesterfahrene Gewerkschaftsfunktionäre.

Die Gewerkschaftsspitze bleibt weg, weil sie diese Regierung nicht wirklich schwächen will. Kritik an einzelnen Maßnahmen ja, aber kein Sturz. Die Funktionäre sind eingefleischte Sozialdemokraten.

Dabei könnten sie doch gerade auf solchen Protestveranstaltungen Jagd auf neue Mitglieder machen, die ihnen genauso in Scharen weggelaufen sind wie der SPD.

Nur bedingt. Vielleicht würden sie so einen Teil ihrer Basis halten. Sie hätten aber den Gegenwind der gesamten Eliten, die unisono sagen: Hartz IV muss sein, es gibt keine Alternativen. Da die Gewerkschaften ohnehin mit dem Rücken zur Wand stehen, würden sie diesen Druck kaum aushalten.

Also von den Gewerkschaften wird es keine Impulse für eine neue Arbeiterbewegung geben?

Die Gewerkschaft ist heute eine reine Interessenvertretung, keine soziale Bewegung. Wenn sich aber die Widersprüche des Neoliberalismus weiter zu spitzen, will ich nicht ausschließen, dass es zu einer Repolitisierung der Arbeiterschaft kommen könnte. Davon ist sie aber weit entfernt.

Trotz Hartz IV?

Schauen Sie doch bloß in den Westen der Republik. Da ist der Funke nicht mal richtig übergesprungen und schon ebbte der Protest ab.

Was haben die Organisatoren falsch gemacht?

Sie hätten sich nicht als konkurrierende Organisationen in den Vordergrund drängen, sondern eine Art Komitee gründen sollen, das für alle spricht. Es hätte einer Außendarstellung bedurft, die auf Einigkeit setzt anstatt auf Vereinspatriotismus.

Einen Anteil haben auch die Medien, die den Protest anfangs gehypt haben, dann aber kleinredeten. Was hätten die Veranstalter dagegen tun können?

Viele Medien haben über abnehmende Zahlen berichtet, als die Proteste eindeutig zunahmen. Das demotiviert natürlich. Die Veranstalter hätten unabhängige Leute einsetzen sollen, die realistische Schätzungen durchführen. Und sie hätten zeigen können, dass die Politik lediglich ihre Prioritäten als Sachzwänge ausgibt.

War es nicht ein Fehler, überhaupt die Form „Montagsdemo“ zu wählen? Jede Woche eine Demo zu organisieren – das ist doch ein großer Aufwand.

Der Fehler bestand darin, dass nicht von Beginn an eine Frist gesetzt wurde. Sicherlich wäre es klüger gewesen, zunächst einmal nur an vier Montagen zu demonstrieren, dann Reaktionen der Politiker abzuwarten und danach mit weiteren Protesten zu drohen. Die Politiker waren in der Phase des Aufstiegs ja ungeheuer dünnhäutig. Erst als sie merkten, jetzt flacht die Kurve ab, fühlten sie sich wieder stark.

Attac und das Aktionsbündnis versuchen nun zurückzurudern. Sie wollen mit den Montagsdemos pausieren.

Jetzt, wo evident ist, dass sie über den Straßenprotest nichts mehr erreichen werden.

Waren die Montagsdemos nicht auch deswegen zum Scheitern verurteilt, weil der feste Rahmen – jeden Montag zur gleichen Zeit am gleichen Ort – die Protestdynamik einengte?

Der Rahmen per se engt nicht ein. Die Organisatoren hätten jeden Montag einen anderen Akzent setzen können. Sowohl thematisch als auch von den Aktionsformen. Zum Beispiel hätten sie einen fiktiven Dialog inszenieren können zwischen Hartz-Befürwortern und Gegnern. So ein didaktisches Spiel kann durchaus witzig sein und hätte die Argumentation geschärft.

Dann waren die Hartz-Proteste umsonst?

Das nun nicht. Der größte Teil wird sich resigniert zurückziehen. Aber ein Teil von ihnen hat sich intensiv mit den Machtstrukturen der Politik auseinander gesetzt und wird aktiv bleiben.

Ist so etwas wie eine nachhaltige Protestkultur entstanden?

Eine nachhaltige Protestkultur entsteht nur da, wo sich vor Ort viele Menschen im Alltag zu Netzwerken zusammenschließen und auch über einzelne Protestveranstaltungen hinaus Verbindungen entstehen. Das sehe ich bei den Hartz-Protesten nicht.

Der linke FU-Politologe Peter Grottian und diverse andere Initiativen haben weitere Proteste und Aktionen angekündigt. Können sie den Massenprotest nicht auffangen?

Ich bin da skeptisch. Grottian hat immer ein Feuerwerk an Ideen und Initiativen, aber der Funke zündet vielfach nicht.

Ihre Prognose für die heutige Demo?

Selbst wenn 100.000 kämen, würde man sagen, das hatten wir schon im November. Erfolgreich wäre die Demo, wenn eine Größenordnung erreicht wird, die niemand erwartet. Ich spreche von 300.000 und mehr. Damit ist aber nicht zu rechnen.