: Konsumiert, was euch kaputtmacht!
Über die Verwandlung kritischer Veranstaltungen in ästhetische Spektakel. Und die neoliberalen Arbeitsverhältnisse in der Neoliberalismuskritik
VON MARK TERKESSIDIS
„Spannend“ ist das Wort der Stunde. Spannend ist alles mögliche, aber besonders spannend sind Veranstaltungen. Globalisierungskritik in Häppchen am Theater. Toni Negri und Michael Hardt, die von Riesenleinwänden herunterpredigen. Zum Witz geronnene linke Theoriekaskaden im Zelt. Dokumentarische Ausstellungen über Prostitution im Grenzland. Die Grenze im Allgemeinen. Bootsfahrten im Palast der Republik. Besichtigungsfahrten durch die koloniale Archäologie der Stadt. Selbst der Kommunismus wird wieder spannend, wenn denn der Kongress dazu tanzt. Was „spannend“ ist, das spielt sich in „mobilen Akademien“ ab, auf „beweglichen Landkarten“ oder in „Zwischennutzungen“. Meistens jedoch in Theatern, Museen oder an Ausstellungsorten. Je mehr es aus der Politik tönt, es gebe keine Alternativen mehr, und je mehr die Kritik als sinnlose Beschäftigungstherapie für professionelle Bedenkenträger desavouiert wird, desto stärker wandern Politik und Kritik in die spannende Veranstaltung aus.
Das könnte man ja durchaus begrüßen – schließlich spricht nun wirklich nichts dagegen, wenn Theater und Kunst sich politisieren. Freilich hat dieser Vorgang einige höchst problematische Nebenwirkungen. Da es keine breite soziale Bewegung gibt, in der diese Politisierung geerdet wäre, ergibt sich der Bewertungsmaßstab der Veranstaltungen nicht daraus, ob mit ihnen bestimmten politischen Zielen zum Durchbruch verholfen wird. Die relevante Frage ist vielmehr, ob die Veranstaltungen als spannend erlebt werden oder nicht. Die Teilnehmer möchten mitgenommen werden auf eine interessante Reise und mit möglichst vielen anderen zusammen in einen körperlichen Zustand der Aufregung versetzt werden – kurz: in die Veranstaltungen ist man als Konsument, nicht als Bürger eingeladen.
Zudem fügen sich die Veranstaltungen in ein Gesamtbild städtischer „Kreativität“. Dass Städte zunehmend zu Themenparks werden, das berichten die Stadtsoziologen schon seit geraumer Zeit. Doch mittlerweile wird die Politik/Kritik selbst zum Bestandteil des Themenparks Stadt. Gerade Städte, deren wirtschaftliche Substanz gelinde gesagt prekär ist wie Berlin, vermarkten sich derweil als Mekka der „Kreativität“. Das Angebot richtet sich etwa an Touristen, deren „große Ferien“ sich in mobile Kurztrips aufgelöst haben. Diese Verwandlung der Stadt in ein Spektakel hat auch Auswirkungen auf die kritische Öffentlichkeit: Auf der Suche nach der spannenden Kultur in der eigenen Stadt werden deren Vertreter quasi selbst zu Touristen.
Das stellt Intellektuelle, Künstler oder auch Theatermacher, die es ernst meinen mit ihrem kritischen Impetus, vor erhebliche Schwierigkeiten. Selbstverständlich möchte man die Ergebnisse der eigenen Arbeit präsentieren – und zwar einem möglichst breiten Publikum. Doch es liegt in der Logik der derzeitigen Veranstaltungsmanie, dass dieses Publikum die kritische Arbeit gleichzeitig entwertet, weil die Besucher diese Arbeit eben primär spannend finden – sie ist ein ästhetisches Spektakel für Konsumenten.
Eine andere Nebenwirkung der Auswanderung von Politik und Kritik in die Veranstaltung betrifft die Arbeitsverhältnisse. Eigentlich hätte man nach dem Zusammenbruch der New Economy vermuten können, dass ein Revival der Gewerkschaft angestanden hätte. Aber weit gefehlt: Mittlerweile kann man davon ausgehen, dass eine kritische Ausstellung über „Prekarität“ im Backstage-Bereich die neoliberalen Arbeitsverhältnisse multipliziert – und diesmal gibt es für die endlose Schufterei für das „Projekt“ so gut wie überhaupt kein Geld mehr. Aber woher kommt die seltsame Bereitschaft, sich für die Veranstaltung schlecht bezahlt buchstäblich Tag und Nacht aufzuopfern?
Zunächst einmal gilt die weite Welt der Veranstaltungen als: spannend. Und das ist höchst attraktiv für 20- bis 40-jährige Akademiker im geisteswissenschaftlichen Bereich, von denen ein nicht unbeträchtlicher Teil kaum konkrete Vorstellung von der eigenen Tätigkeit in der Zukunft hat. Das Studium in der Bundesrepublik bereitet selten auf irgendeinen Beruf vor und deshalb haben die meisten Abgänger den Eindruck, dass sie eigentlich noch gar nichts können. Mit diesem Mangel an Selbstbewusstsein stoßen sie auf die Welt der Projekte – und sind dort begierig, etwas zu lernen. Da aber die Projekte doch recht unterschiedlich sind, haben viele am Ende eines Projekts kaum das Gefühl, für das nächste Projekt bereits ausreichend vorbereitet zu sein. Das Lernen also geht im nächsten Projekt weiter, was der grassierenden Devise vom „lebenslangen Lernen“ bald einen schalen Beigeschmack verleiht. Denn die Penetranz des Lernanspruchs verlängert das eigene Defizit ins Unendliche: Man kann einfach nie genug, um beim nächsten Mal nicht wieder von vorn beginnen zu müssen. Im Übrigen betrifft der Mangel an Selbstbewusstsein Frauen noch einmal stärker als Männer. Daher würde eine Untersuchung der Arbeitsverhältnisse in kritischen Projekten mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit ergeben, dass die inhaltlichen Entscheidungen von Männern getroffen werden, während Frauen oft für Organisation und Kommunikation zuständig bleiben.
Aber es gibt noch ein weiteres Moment, dass die Bereitschaft zu endloser Plackerei für wenig Geld immens steigert. Gewöhnlich rekrutieren sich die Mitarbeiter in den kritischen Projekten aus der Mittelschicht. Dieser Hintergrund und das eigene Selbstverständnis als alternativ und politisch führt zu der Auffassung, dass Geld stinkt. Über Geld redet man nicht gern. Darüber hinaus weiß man ja, dass für all die nomadischen Veranstaltungen in den Zwischenräumen eigentlich kein Geld da ist und man mit wenig zufrieden sein muss, wenn denn das Projekt überhaupt zustande kommen soll. Und am Ende können Papa und Mama ja immer noch einen Tausender zuschießen.
So ist man Wachs in den Händen bestimmter „Macher“, der großen Zampanos der kritischen Veranstaltungsbranche. Wenn das Projekt einmal läuft, dann kann man unmöglich aussteigen. Denn die Verantwortung ist riesengroß. Zumeist arbeiten so wenige Personen im Projekt, dass jeder Ausfall den anderen noch mehr Arbeit aufbürdet. Krankheitsbedingte Fehlzeiten werden zum Relikt aus den Tagen, als der Arbeitnehmer noch existierte. Selbstverständlich wird regelmäßig alles zu viel – der Mangel an Schlaf, die schlechte Ernährung, die rasenden Gedanken, die endlosen To-do-Listen, das drohende Versagen, der Druck des Erfolges. Regelmäßig folgen kleinere und größere Zusammenbrüche. Früher lautete der Preis für Selbstausbeutung in alternativen Projekten: Selbstbestimmung. Man wusste, was man wollte, und hat versucht, es zu realisieren. Das gibt es selbstverständlich immer noch. Doch in den beschriebenen Projekten der kritischen Veranstaltungsbranche ist Selbstbestimmung zu einer Bestimmung der Grenzen des eigenen, vollkommen unsicheren Selbsts geworden: Wie weit kann ich mit mir selbst gehen, wie lange halte ich durch? Die passende Show dazu liefert seit geraumer Zeit MTV – sie heißt „Jackass“.
Nach dem Projekt schließlich, wenn alles vorbei ist, kommt erst einmal das große Loch. Das Problem des „Zuviels“ stellt sich nun auf andere Weise. Da die meisten nicht wissen, was sie genau machen wollen und das eigene Potenzial ständig unausgeschöpft erscheint – es gibt immer noch etwas zu lernen –, droht nach dem Projekt die Depression. Ein Irrtum über Depressionen besteht darin, zu glauben, hier handele es sich um eine Krankheit der Leere. Die Depression ist ein Leiden an der Fülle: Der Depressive hat ein Zuviel an Welt und kann sich nicht entscheiden. Wie ein Hund, den zwei Herrn auf einmal rufen, versetzt er sich selbst in einen Schlafzustand. Depression ist das Leiden der „Kreativen“ par excellence. Sie kann einen auch während des Projekts ereilen, wenn alles über einen hereinbricht. Depressionen sind in Deutschland der häufigste Grund für Arbeitsausfälle – erst auf dem zweiten Platz kommen die Rückenleiden. Man kann sich nicht einmal mehr dagegen versichern: Wer sich als Kreativer vor Berufsunfähigkeit schützen will, den weisen die Versicherungen häufig ab. Kreative werden zu oft berufsunfähig – wegen Depressionen.
Nun könnte man die hier vorgestellten Gedanken als polemisch zugespitzten Kulturpessimismus abweisen. Doch es geht hier nicht darum, wieder einmal die Hymne des Verlusts von so etwas wie „Underground“ anzustimmen. Es geht um ganz spezifische Formen von spektakulären Veranstaltungen, in denen mit einem Mix aus frei flottierenden Theorieversatzstücken, Überresten von Konzeptkunst und bestimmten Formen des Theater-Happenings eine kulturelle Kritik des Neoliberalismus suggeriert wird, die aber letztlich eine Proliferation der neoliberalen Verhältnisse betreiben. Insofern geht es keineswegs um Pessimismus, sondern um eine Auseinandersetzung mit dieser gefräßigen Kulturmaschine – und damit auch um einen Streit mit der Rolle der Kultur im derzeitigen Kapitalismus. Das ist zweifellos schwierig, vor allem für die Beteiligten. Doch ist es notwendig, dass die kritische Stoßrichtung der grassierenden politischen Kulturveranstaltungen hinter deren Kulissen getragen wird. Tatsächlich braucht man heute für den Protest die Veranstaltung gar nicht mehr zu verlassen: Man kann dableiben und gegen die neoliberalen Arbeitsverhältnisse im Hintergrund demonstrieren – und gegen deren erstaunliche Unsichtbarkeit.