: Aber zur 6. Stunde sollst du ruhen
aus Frankfurt HEIDE PLATEN
Die Kartons stapeln sich im Wohnzimmer vor der Balkontür, die Mannecks sind gerade umgezogen, eine ganz normale Familie, Vater, Mutter, drei Kinder, im Frankfurter Stadtteil Ginnheim. Wohnungen zu finden ist in Frankfurt schwer. Nun sind es drei helle Zimmer in einer ruhigen Straße geworden, neben dem Sportplatz in einem der rennovierten, dreistöckigen Housing-area-Blocks, die einmal Soldaten der US-Army beherbergten.
„Endlich“, sagt Jürgen Manneck. Die Kinder können draußen spielen, der Älteste hat ein eigenes Zimmer. Ganz normale Sorgen einer ganz normalen Familie. Nur, dass im Wohnzimmer die rote Fahne hängt mit dem Porträt eines Mannes, das sicher nicht nur für die amerikanischen Vormieter gewöhnungsbedürftig gewesen wäre. An der Wand lächelt milde Che Guevarra. Adelante, commandante, der Sieg im Volkskrieg ist trotzdem nicht unbedingt das Programm des 40 Jahre alten Mannecks. Er setzt nicht auf Waffengewalt, sondern auf die „alles richtende, waltende Vernunft ohne Gewalt und Unterdrückung“, jedenfalls für das, was ihm für die Zukunft vorschwebt, was seine Vision einer besseren Gesellschaft ist: die Fünfstundenwoche für alle Arbeitnehmer.
Manneck, rötliche kurze Haare, graugrüne Augen, rundherum Lachfältchen hinter der Goldrandbrille, neigt nicht zur Selbstdarstellung. Aber auch, wenn er dabei verlegen wird, gehört werden möchte er doch. Er versteht sich als Aufklärer und entwirft Gesellschaftsmodelle, angesiedelt zwischen Basisdemokratie einerseits und der Utopie des Anarchismus andererseits. In einer Gesellschaft, in der die einen Mangel leiden, die anderen immer reicher werden, brauche es Analyse und Denkarbeit.
Manneck hat sich dafür über zehn Jahre Zeit genommen. Er ist gesellschaftsphilosophischer Autodidakt, hält nichts vom universitären Elfenbeinturm und schon gar nichts von schnellen, wohlfeilen Rezepten. Gedanken müssen gründlich erarbeitet sein, ehe sie verbreitet werden. Und er meint es damit „wirklich ernst“, so sagt es jedenfalls seine Frau Birgit, und zwar „manchmal bis zur Schmerzgrenze“. Manneck investiert sich selbst, Zeit und Geld, reist und diskutiert. Er schreibt Bücher zur Begründung seiner Forderung, rechnet darin den ökonomischen Sinn und die gesamtgesellschaftliche Machbarkeit vor. Seine Werke sind das Ergebnis langer theoretischer Diskussionen im Freundeskreis, der ihm irgendwann einmal gesagt hat: „Schreib das auf!“
Das hat er getan, unter dem bedeutungsschweren Pseudonym „Darwin Dante“. Die beiden schmalen Bände, einer rot, einer weiß, tragen die Titel „Die neue Welt und das Ende der Lohnarbeit“ und „5-Stunden sind genug“, erschienen im Selbstverlag „Manneck Mainhatten“. Das Letztere – knapp 100 Seiten stark – ist mit bisher 5.000 vertriebenen Exemplaren ein heimlicher Renner.
Darin versucht Manneck den Nachweis, dass gerade die Überproduktion von Waren durch Konkurrenz und daraus resultierendem Preisverfall zur Massenarbeitslosigkeit führe. Weniger Menschen produzieren immer mehr Waren, müssen deshalb für weniger Lohn länger arbeiten. Für einen Mittelklassewagen brauche es, rechnet er vor, höchstens 90 Stunden Produktionszeit, vom Verbraucher bezahlt werden müsse das Auto bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 1.700 Euro aber mit 173 Stunden Arbeitszeit. Er diagnostiziert die „Überproduktionskrise“. Zumindest auf dem Papier schafft er das von ihm ausgemachte Grundübel ab: den Handel. Stattdessen arbeiten alle weniger, die Arbeitszeit wird gegen den Gebrauchswert von Waren verrechnet.
Seinen Streit für die Fünfstundenwoche begreift er als „ein Stück Aufklärung“ über das, was heute technisch machbar sei. Die Mehrheit der Menschen, die die Werkzeuge seit der Steinzeit immer weiter entwickelt haben, hätten längst keinen Anteil mehr an dem Reichtum, den Generationen kollektiv durch Körperkraft und Gedankenarbeit geschaffen haben. Das Leben werde heute, völlig anachronistisch, für viele Menschen nicht leichter, sondern schwerer. Der Zweck vieler Unternehmen sei einzig und allein der Gelderwerb und diene nicht den Menschen. Die meisten Produkte, für die Konsumenten in den Billigmärkten anstehen müssen, seien „völlig überflüssig“ oder aber unsinnig kurzlebig. Warum muss, fragt Manneck, ein Auto nach elf Jahren eine Rostlaube sein, wenn es eigentlich ein Leben lang halten könnte?
Jürgen Manneck ist in Köln geboren, lernte nach dem Hauptschulabschluss bei Bayer Leverkusen Elektroinstallateur. Sein Vater, gelernter Maurer, arbeitete sich aufwärts zum Chemielaboranten und Industriemeister, der Sohn ist heute Angestellter in einem Dienstleitungsunternehmen. Manneck nutzt den Erziehungsurlaub für seine Kinder, denn er erinnert sich, dass der Vater wenig Zeit für sich und die Familie hatte. Tagsüber schaffte er, abends büffelte er für die Abendschule, manchmal noch „nachts auf dem Balkon“, um die anderen nicht zu stören. Die Eltern waren „sehr, sehr politisch“, der Vater Sozialdemokrat, ein Großvater Kommunist.
Die Sorgen der Schaffer im Ruhrgebiet um ihre Arbeitsplätze haben Jürgen Mannecks Jugend geprägt, und auch die großen Streiks bei Ford in den 70er-Jahren in Köln. Dass Automation Entlassungen und Arbeitslosigkeit bedeutet, lernte er als Geselle in einem modernisierten Betrieb in Brunsbüttel: „Alles war leer, da waren kaum noch Menschen.“ Manneck besuchte eine Technikerschule, engagierte sich in Frankfurt am Main politisch, formulierte erst für sich, dann mit anderen zusammen Fragen, wie denn eine herrschaftsfreie Gesellschaft aussehen könnte. Erst entstanden Broschüren, dann die Bücher.
Der Autor schreibt dagegen an, dass „den Menschen der Kopf verdreht wird“. Der heutige Standardsatz „Die Arbeit ist zu teuer“ sei eine der „größten Betrügereien“: „Nicht die Arbeit ist zu teuer, sondern die Verwaltung der Arbeit.“ Es werde nicht zu wenig, sondern entschieden zu viel produziert, oft Schund mit eingebauten Sollbruchstellen, bestimmt für den schnellen Konsum und das noch schnellere Wegwerfen. Manneck setzt dagegen auf Langlebigkeit, Senkung der Produktionsraten und damit auf reduzierte Arbeitszeit nach den Vorgaben „des heute technisch Machbaren in der real existierenden Gesellschaft“. Die dann noch notwendige Arbeit müsse auf freiwilliger Basis verteilt werden.
Was nun aber, wenn alle das schon 1849 von dem französischen Sozialisten Paul Lafargue, Schwiegersohn von Karl Marx, geforderte „Recht auf Faulheit“ in Anspruch nehmen und niemand mehr Brände löschen, Müll beseitigen, Kranke versorgen oder Brot backen will? „Das glaube ich nicht“, sagt Manneck. Er vertraut auf die Menschen. Oder vielmehr auf ihre Vernunft, auf Einsichtsfähigkeit und Produktivkraft, die „angeborene Ruhe- und Rastlosigkeit“, die sie schlussendlich zu freiwilliger, sinnvoller Tätigkeit dränge, nicht entfremdet, sondern selbstverantwortlich – für sich wie für die Gemeinschaft.
Das klingt nach Utopie, genauer nach dem Traum einer anarchistischen Gesellschaft, in der sich alle in schönster Selbstregulation in kleinen Gruppen nach ihren jeweiligen Fähigkeiten und Bedürfnissen organisieren. Solcherlei Gesellschaftsmodelle hat es seit dem 18. Jahrhundert immer wieder gegeben, keines hatte je eine Chance, Realität zu werden, weder im frühen Kapitalismus noch nach der Russischen Revolution, in der der Kommunismus über den Anarchismus siegte. Na ja, sagt Manneck, der Anarchismus sei das „absolute Idealbild“, eine „gedachte Weiterentwicklung einer Basisdemokratie“. Er setzt auf einen Prozess der wachsenden Einsicht, in der auch das Unangenehme geteilt und getan werde. Heutzutage treibe die objektive Gewalt die Menschen auch ohne den Einsatz von Waffen an, im Sinne des Profits und der Gewinnoptimierung Einzelner zu funktionieren: die Angst vor Hunger, Arbeits- und Obdachlosigkeit. Das, findet Manneck, sei nicht notwendig in einer Gesellschaft, in der „es anfängt, dass sich die Menschheitsträume erfüllen“, in der Maschinen die Arbeit erheblich erleichtern oder ganz übernehmen.
Die Erfahrung der Ungerechtigkeit der Verteilung des Reichtums hat ihn zu seinen Thesen motiviert. 1988, während einer Brasilienreise, hörte er in Rio de Janeiro Schüsse und erfuhr erst später, dass diese Straßenkindern gegolten hatten, die in Restaurants um Essensreste bettelten: „Das war so schockierend, dass ich danach mit Hochdruck an meinen Thesen gearbeitet habe.“
Das Pseudonym Darwin Dante sei dabei, gibt Manneck zu, „etwas hoch gegriffen“, aber symbolisch gemeint. Der englische Biologe Charles Darwin sei im 19. Jahrhundert einer der ersten Verfechter des Naturrechtes, der Selektionstheorie und somit des Rechts des Stärkeren gewesen. Dante Alighieri, der größte Dichter Italiens, habe 600 Jahre zuvor in „Die Göttliche Komödie“ das Inferno beschrieben, die Hölle, in die Unvernunft und Eigensucht führen. „Ich hoffe“, sagt Manneck und vergisst kurz sein humanistisches Anliegen, „dass sehr viele Vertreter des Darwinismus in diesem Höllenofen schmoren.“
Manneck wäre vorerst auch mit einer Zwölfstundenwoche „als Übergang“ zufrieden. Er hatte seine Thesen auch im Internet verbeitet. Das tut er derzeit nicht mehr, denn sein Arbeitgeber stieß auf die Seiten und war nicht sehr erfreut über einen Mitarbeiter, der öffentlich für die Fünfstundenwoche eintritt. Seither, sagt Manneck, fühle er sich gemobbt.