Die Muslimschwester

Intime Innenansichten aus dem Islamismus: Eine Begegnung mit der ägyptischen Schriftstellerin Miral al-Tahawi, der interessantesten neuen Literatin ihres Landes. Schreiben ist wie Krieg, sagt sie

Acht Jahre war die Beduinentochter Mitglied bei den Muslimbrüdern

VON DANIEL BAX

„Wir hatten ein Grammophon, und wir haben jeden Tag um fünf Uhr Tee getrunken“, erzählt Miral al-Tahawi. Es klingt nach einem Haushalt im Kolonialstil, fast wie aus einem Roman von Gabriel García Márquez. Nur dass man ihn sich nicht in einem gottvergessenen Kaff im kolumbianischen Regenwald vorstellen muss, sondern in einem ägyptischen Dorf in der Wüste, weit entfernt von Kairo. „Mein Vater war Arzt und Chirurg und gleichzeitig Oberhaupt eines Beduinenstammes. Er war ein sehr fortschrittlicher Mann und er hatte den Wunsch, die Lebensformen zu ändern. Unser Haus hatte er nach englischem Vorbild bauen lassen, mit einem Swimmingpool im Garten. Meine Mutter hat geraucht, und beide haben Bier getrunken. Das war sehr seltsam in dieser Gegend, und deswegen hat man sie fast als verrückt angesehen.“

In diesem Elternhaus wuchs die 1968 geborene Miral al-Tahawi auf, als einziges Mädchen unter sechs Brüdern in einer Beduinenfamilie. In Ägypten bilden diese sesshaft gewordenen Nomadenstämme, die ursprünglich von der arabischen Halbinsel stammen, eine Art Feudalschicht, die ihren Boden von einheimischen Bauern bearbeiten lässt.

Ihr Vater ermöglichte Miral al-Tahawi das Studium in Kairo, wo sie sich für Literaturwissenschaften eintrug. Doch wie ihre Geschwister schloss sie sich dort den fundamentalistischen Muslimbrüdern an, die an der Universität agitierten. Acht Jahre lang war sie Mitglied der islamistischen Bewegung und trug ein Kopftuch. „Das hat meinen Vater sehr bedrückt“, sagt Miral al-Tahawi. „Er war Mitglied der regierenden Wafd-Partei, und ihm waren die Prinzipien von Liberalismus und Säkularismus wichtig, in Abgrenzung zu einem islamischen Staat.“ Schon die politische Annäherung zwischen seiner Partei und den Muslimbrüdern in den Siebzigerjahren sei ihm nicht geheuer gewesen. „Doch als sich mein älterer Bruder auf der Universität einen Bart wachsen ließ und sogar ein Anführer der Muslimbrüder wurde, da ist meinem Vater klar geworden, dass die Entwicklung selbst in seiner eigenen Familie aus dem Ruder läuft.“ Bald darauf sei er gestorben, vor Kummer wahrscheinlich.

Die ägyptische Schriftstellerin Miral al-Tahawi ist derzeit die bemerkenswerteste literarische Stimme ihres Landes. Sie schreibe aus einem „Schuldgefühl“ heraus und zur inneren „Läuterung“, sagt sie. Aber auch, dass sie schon als Kind dafür bekannt gewesen sei, Ereignisse nicht einfach so zu erzählen, wie sie sich wohl zugetragen hätten, sondern jedes Mal eine neue Variante zu ersinnen. „Ich sage immer, dass ich mehr als eine Biografie habe“, sagt Miral al-Tahawi. „Ich weiß selbst nicht, was die Grenzen zwischen Fantasie und Realität sind.“

Als sie 1996 ihren ersten Roman „Das Zelt“ veröffentlichte, war sie gerade als Lehrerin in ihrem Heimatdorf tätig. Heute arbeitet sie als Lehrbeauftragte an der Universität in Kairo. Ihr erster Roman handelte von einem Mädchen, das nicht aus den engen Grenzen ihrer Beduinenfamilie hinauskommt: Eine Amputation ihres Beins wird zum Sinnbild ihres gescheiterten Ausbruchs. Ihr zweites Buch „Die blaue Aubergine“ dagegen spielt größtenteils in einer urbanen Umgebung, an der Universität in Kairo. Wenn man will, lassen sich auch in diesem Buch viele biografische Spuren finde, Parallelen zwischen Miral al-Tahawi und ihrer Ich-Erzählerin Nada.

Geboren im Jahr der arabischen Niederlage im Sechs-Tage-Krieg, 1967, wächst das Mädchen Nada mit dem ständigen Gefühl des Ungenügens auf. Ihr klaustrophobisches Körpergefühl verdichtet sich in der Metapher von den Narben in ihrem Gesicht, die von einer Kieferoperation herrühren. An der Universität entdeckt Nada die islamische Bewegung für sich und versteckt sich in langem Mantel, Kopftuch und Handschuhen wie in einem Kokon. Mit gesenktem Blick gibt sie sich tugendhaft und demütig. Doch das schützt sie nicht vor den Stürmen, die in ihrem Innersten tosen.

Heimlich schwärmt sie für den Freund ihrer Mitbewohnerin Safa, mit der sie sich im Studentinnenwohnheim ein Zimmer teilt. Diese ist der Gegenpol zu Nada: Sie trägt Zöpfe, raucht und hat einen Freund, der ein Kommunist und Künstlertyp ist. Doch auch die Beziehung der aufmüpfigen Safa ist Zwängen unterworfen. Ihr bohemistischer Liebhaber steht unter der Knute seiner Mutter, und im Alkoholrausch beschimpft er sie schon mal als Hure: Der Ausbruch aus der gesellschaftlichen Zwangsmoral endet nur im nächsten Gefängnis. Und auch, als sich die Hauptperson Nada endlich von ihren selbst auferlegten Fesseln löst, endet ihre Affäre mit einer Enttäuschung.

In Ägypten wurde „Die blaue Aubergine“ kontrovers aufgenommen und debattiert, als wäre es ein arabisches „Elementarteilchen“. Insbesondere die Absage an alle Ideologien, der linken wie der islamistischen, die alle nicht zu einer inneren Befreiung der Protagonistin beitragen, wurde von manchen als sehr radikal empfunden. „Die Rhetorik von der ‚Befreiung der Frau‘ diente in der arabischen Linken häufig nur dazu, auch noch den Körper der Frau auszubeuten“, sagt Miral al-Tahawi dazu. Aber auch die schonungslose Offenheit, mit der sie die Beziehung zur Mutter, die ödipale Fixierung auf den Vater und die Unsicherheit der Geschlechter beschrieb, wirkten auf manche Leser schockierend.

Gleichzeitig stand die literarische Qualität jedoch außer Frage: Die poetische Sprache, die kunstvollen Perspektivwechsel und die Rätselhaftigkeit, die manche Szene in der unwirklichen Schwebe hält, fanden allenthalben Lob. Als erste Frau erhielt Miral al-Tahawi deshalb 2002 für „Die blaue Aubergine“ den staatlichen Förderpreis für Literatur, was insofern überraschend ist, als der Roman auch mit Kritik an staatlicher Willkür nicht spart: So wird in einer Szene beschrieben, wie der Bruder von Nada, der bei den Muslimbrüdern aktiv ist, für seine Überzeugungen auf einer Polizeiwache zusammengeschlagen wird.

„Es ist kein politischer Roman“, betont Miral al-Tahawi dennoch. „Es ist ein persönlicher, ein psychologischer Roman.“ Natürlich spiegele sich in ihrer Hauptperson das Dilemma ihrer Generation, die sich zwischen den Ansprüchen ihrer Eltern und den eigenen unerfüllten Erwartungen eingekeilt fühle: „Die Generation unserer Väter war erfüllt von Hoffnungen auf Veränderung und Wandel. Wir aber konnten diesen Ansprüchen nicht genügen und haben sie enttäuscht“, so Miral al-Tahawi. Der Islamismus zeige sich hier auch als ein Generationenkonflikt. „Aber ich bin Autorin, ich habe keine politischen Lösungen. Deshalb gibt es auch keine Antworten in diesem Roman.“

Drei bis vier Jahre nach dem Tod ihres Vaters hätten sich die Geschwister aus den religiösen Bewegungen zurückgezogen. Der Roman sei für sie eine Form gewesen, um die Fragen zu verarbeiten, die mit dieser Erfahrung zusammenhingen. Längst aber habe die islamistische Bewegung in Ägypten ihren Zenit überschritten. Heute habe sich die Situation an den Universitäten geändert: Es würden nicht mehr so viele religiöse Pamphlete verteilt und der soziale Druck, der Zwang zum Kopftuch, sei nicht mehr so stark wie früher. „Eine Bewegung verliert an Einfluss und Attraktivität, wenn sie ihre Ansprüche nicht einlösen kann“, sagt Miral al-Tahawi. Aber solange die politischen Voraussetzungen herrschten, würden diese Vereinigungen weiter existieren, wenn auch an der Peripherie. „Sie sind eine Reaktion auf die politische und gesellschaftliche Unterdrückung, die sie umgibt“, sagt Miral-al Tahawi. „Die meisten ihrer Anhänger sind sehr jung und haben keine Lebenserfahrung. Sie verfolgen nicht wirklich ein politisches Ziel oder ein politisches Projekt.“ Schon die Parole „Der Islam ist die Lösung“ zeige ja: Das sei etwas für Träumer, „das ist doch nicht realistisch“.

Wie hat sie die Kritik an ihrem Roman aufgefasst? „Am meisten verletzt mich die Unterstellung, ich würde nur für den Westen schreiben“, sagt Miral al-Tahawi; da klingt der Vorwurf der Nestbeschmutzung durch. Zwar sind ihre Romane bereits in mehrere Sprachen übersetzt worden. Doch der überwiegende Teil ihrer Leser findet sich noch immer in der arabischen Welt, und da vor allem in den Golfstaaten.

Erstaunlicherweise hat Miral al-Tahawi hierzulande bislang nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die sie verdient hätte. Als im vergangenen Jahr die deutsche Übersetzung von „Die blaue Aubergine“ im Unionsverlag erschien, fand sie nur wenig Echo in der deutschen Presse. Im Vorfeld der heute beginnenden Buchmesse, zu der Miral al-Tahawi eingeladen ist, standen andere Autoren im Vordergrund. Ihr dritter Roman, „Gazellenspuren“, der 2002 in Ägypten herauskam, ist bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt worden.

Hat sie Angst vor noch harscheren Reaktionen? Nicht wirklich. Von einer islamistischen Gruppe wurde einmal ein Hetzartikel gegen sie auf einer Webseite veröffentlicht, das war alles. „Alle Autoren, die die Gefühle der Gesellschaft verletzen, müssen damit rechnen, dass sie auf Ablehnung stoßen, weil sie Unfrieden stiften“, sagt Miral al-Tahawi. „Aber meine Texte verletzen in erster Linie mich selbst“, sagt sie in Anspielung darauf, dass ihre Bücher streckenweise den Charakter von intimen Beichten tragen. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass das Schreiben wie ein Krieg ist. In letzter Zeit habe ich regelrecht Angst vor dem Schreiben.“