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Archiv-Artikel

Ein peinlicher Patriot

Seymour M. Hersh hat schon Amerikas Schande in Vietnam enthüllt. Nun deckt er die Hintergründe der Folter in Abu Ghraib auf. Er wird zur „vierten Gewalt“, weil andere Institutionen versagt haben

VON CLAUS LEGGEWIE

Auch wer Seymour M. Hershs Artikel im New Yorker bereits kennt, sollte dieses herausragende Buch auf jeden Fall lesen. Jüngeren ist der Autor bekannt, weil er die Folter im Gefängnis Abu Ghraib in Bagdad aufgedeckt hat. Für Ältere ist Hersh vor allem der Journalist, der schon Amerikas Schande im Vietnamkrieg enthüllt hat: das Massaker von My Lai vor 35 Jahren.

Die acht Kapitel des Buches beginnen in Guantánamo und Abu Ghraib, es folgen Erkundungen zum Versagen der US-Geheimdienste vor und nach dem 11. September 2001, Informationen zu dem in den USA fast vergessenen Krieg in Afghanistan. Zudem zeigt Hersh, warum die neokonservativen Falken darauf drängten, auf „Nine Eleven“ mit einem Feldzug gegen den Irak zu antworten – und zieht ein Resümee der dazu aufgebotenen Lügen und Fälschungen. Das ganze komplettiert ein Porträt des unglückseligen Donald Rumsfeld, eine Warnung vor Musharraf, Amerikas „höchst gefährlichem Freund“ in Pakistan, und eine Bilanz des Scherbenhaufens, den George W. Bush im Nahen Osten angerichtet hat.

Auf 400 Seiten deckt Hersh kapitale Strategiefehler, Manipulationen und Kriegsverbrechen auf, die nur einen Schluss zulassen: Nach dem 11. September 2001 haben sich Amerikas Methoden denen der Terroristen angenähert. Seine Führung hat sich so in Lügen verstrickt, dass es bisweilen an totalitäre Regime erinnert. Man schmeichelt der freien Presse oft als vierte Gewalt, als hätte sie einen Verfassungsauftrag und nicht das Ziel, Informationen zu verkaufen und damit Gewinn zu machen, wie der zum Condé-Nast-Konzern gehörende New Yorker. Doch dessen Chefreporter Hersh kommt dem alten Ideal des muckrackers (Dreckwühlers) nahe, wenn er die Machenschaften einer arroganten und in vieler Hinsicht inkompetenten Führung aufdeckt.

Das Buch lässt erkennen, wie der 60-jährige Reporter arbeitet: „Frühere Mitarbeiter“ der Regierung und der Armee, der Diplomatie und der Geheimdienste stecken ihm Informationen, weil sie von ihrem Gewissen geplagt sind oder die offiziellen Dramatisierungen und Verharmlosungen nicht mehr ertragen können. Vieles bekommt Hersh zugespielt, weil er selbst eine Institution geworden ist. Er ließ sich nie korrumpieren. Andere Fakten recherchiert er in unzähligen Telefonaten und Gesprächen in seinem winzigen Büro an der Connecticut Avenue nahe den Washingtoner Macht- und Geheimdienstzentralen. Grobe Fehler hat ihm niemand nachweisen können, vor Gericht konnten ihn auch die Mächtigsten nicht ziehen – lakonisch dankt Hersh seinem Anwalt, der ihm „weiterhin aller Scherereien vom Leib“ hält.

Vierte Gewalt? Für die amerikanische Presse gilt das weniger denn je, im „Kampf gegen den Terror“ haben auch liberale Ostküstenblätter klein beigegeben, ganz zu schweigen von den elektronischen Medien, die nur noch als verrottet zu bezeichnen sind. Hersh unterscheidet von anderen scharfen Kritikern wie Gore Vidal und Noam Chomsky, dass er Fakten ernster nimmt und trotz allem an Amerika glaubt. Und er steht nicht allein: auch Mark Danner, Journalistikprofessor in Berkeley und früher Redakteur des New Yorker, hat gerade zum selben Thema das Buch „Torture and Truth“ publiziert.

Wegen Abu Ghraib hat Hersh das „J’accuse!“ übernommen. Doch der Präsident, sein Vize und ihre Spin-Doktoren reagieren mit nonchalanter Pampigkeit. Wenn sie eine Lüge nicht mehr abstreiten können, erklären sie die Sache für nicht so wichtig – etwa Saddam Husseins angebliche Massenvernichtungswaffen. Im Prinzip haben sie eh das Richtige getan. Hersh schließt sein Buch mit den Worten: „Viele halten George W. Bush für einen Lügner, für einen Präsidenten, der bewusst Tatsachen verdreht, wenn es ihm politisch nützt. Doch Lügen setzt voraus, dass man weiß, was man will, was möglich ist und wie man es am besten erreichen kann. Plausibler erscheint mir die Erklärung, dass Worte für unseren Präsidenten über den unmittelbaren Augenblick hinaus keine Bedeutung haben. Daher glaubt er, dass seine Phrasen allein schon durch das Aussprechen zur Realität werden. Eine erschreckende Vorstellung.“

Hersh muss sich deswegen zur vierten Gewalt aufschwingen, weil andere gegenüber der Exekutive zu lange geschwiegen oder ganz versagt haben. Guantánamo hat die Mehrheit des Obersten Gerichtshofs erst spät gerügt, Senat und Repräsentantenhaus lassen die Verfassungsbrüche geschehen. Dabei haben nicht schwarze Schafe am unteren Ende der Hierarchie Mist gebaut, es wurden ganz oben in der Befehlskette Blankovollmachten ausgestellt. Rumsfeld, Cheney oder Bush haben die Folter nicht ausdrücklich befohlen, doch im Schlamassel von Afghanistan und Irak kam es zu einer kumulativen Radikalisierung, deren Akteure sich auf den übergesetzlichen Notstand berufen konnten. Den hatte der Präsident schon am 7. Februar 2002 ausgerufen, als er erklärte: dass „keine der Vorschriften der Genfer Konvention für unseren Konflikt mit al-Qaida in Afghanistan und allen übrigen Teilen der Welt anwendbar ist“. Special Access Programs von August 2003 haben zudem den Kongress von geheimen Informationen über die Kriegsführung und die Behandlung von Gefangenen abgeschnitten.

All das erinnert, ohne dass Hersh dies direkt anspricht, an den letzten Versuch, im Schatten des Vietnamkriegs eine imperiale Präsidentschaft zu errichten, bevor der Kongress Richard Nixon an die Kandare nahm. Würde Bush mit einem Wahlsieg Rückenwind bekommen, könnte Deutschlands engster Verbündeter in eine gefährlich autoritäre Entwicklung abdriften. Diese ist letztlich religiös begründet, denn nur wer sich mit Gott im Bunde fühlt, legt auf Fakten, Gesetze und Verantwortungsethik keinen Wert mehr. Leute wie Sy Hersh, der unverdrossen um die älteste Demokratie der Welt kämpft, machen Hoffnung, dass dies noch aufzuhalten ist.

Seymour M. Hersh: „Die Befehlskette. Vom 11. September bis Abu Ghraib“. Aus dem Englischen von Hans Freundl, Norbert Juraschitz, Thomas Pfeiffer, 402 Seiten. Rowohlt, Reinbek 2004, 14,90 Euro