: Kurz hinter der Wahrheit
Viele weiße Blätter: Barbara Honigmann gräbt in ihrem Buch „Ein Kapitel aus meinem Leben“ das Leben ihrer Mutter um, öffnet darüber hinaus aber auch politische und kulturhistorische Perspektiven
von THOMAS KRAFT
Ein Buch der Fragen und Deutungsversuche, eine Spurensuche im familiären Bereich, wie so viele in diesen Tagen, das ist Barbara Honigmanns neuer Roman. Wo das Subjekt im medialen Getöse und sozialen Kampf zu verschwinden droht, sinnstiftende Koordinaten verloren gegangen scheinen und sich viele im Spiel mit allem Möglichen und Unmöglichen zu betäuben suchen, glauben Autoren im persönlich Erinnerten, im Biografischen, Privaten, ja auch Intimen verlässliche Haltepunkte zu finden. Das Spektrum reicht hierbei von experimentellen Körpertexten über Adoleszenzliteratur bis hin zum Familienpanorama. Die Flut der Biografien vom „Moppel-Ich“ bis hin zur Gottschalk-Nobilitierung ist letztlich nur Ausdruck einer Sehnsucht nach einem Paralleluniversum, das das eigene verlorene Ich auffangen und beglaubigen kann.
Barbara Honigmanns literarisches Schaffen kreist seit knapp zwanzig Jahren um die Geschichte der eigenen Familie, um das Ringen nach nationaler, politischer und religiöser Identität. Der Sprung durch die politischen Systeme und kulturellen Welten, die sie und ihre Vorfahren vollzogen haben, reflektiert das Bemühen, heimisch zu werden. „Ich bin nicht auf der Suche nach einer jüdischen Identität“, sagt Barbara Honigmann. „Das ist eine der wenigen Identitäten in meinem Leben, die immer da war und außer Frage steht. Das Religiöse ist das Einzige, was für mich genuin jüdisch ist. Das andere ist Herkunft oder Biografie oder von außen aufgedrängte Andersartigkeit und das von außen herbeigeführte Schicksal.“
Doch ganz so fatalistisch, ganz so mit sich selbst im Reinen scheint die Autorin nicht zu sein, wenn man den vielen Zweifeln und Fragen, die im neuen Roman gestellt werden, Glauben schenken darf. Und das sollte man unbedingt, denn eines ist klar und zudem sympathisch: Die Autorin (die man hier ausnahmsweise mit der Erzählerin gleichsetzen darf) macht keinen Hehl aus ihrer Ratlosigkeit, ihrer Verärgerung. Sie gräbt das Leben ihrer Mutter um, die ihr nur einen Karton mit Fotos, ein letztes ausführliches und doch vages Gespräch kurz vor ihrem Tod und ansonsten viele offene Fragen und Rätsel hinterlassen hat.
Dabei hätte sie viel zu erzählen gehabt, die in Wien geborene, in einem ungarischen Gutshof aufgewachsene und dann über die Stationen Wien, London, Paris und Berlin wieder in Wien gelandete Jüdin. Anfang des letzten Jahrhunderts geboren, hat sie zwei Weltkriege und drei Ehemänner überlebt, mit dem KGB kollaboriert, mondäne Künstlerparties gefeiert und große Hüte getragen. Sie war „unvorhersehbar, chaotisch und wechselhaft“, der „Balkan“ eben, wie Honigmanns Vater zu sagen pflegte, eine „Wiener Kaffeehausjüdin“, gesellig, eloquent, lebenslustig und rätselhaft. Sie redete viel und sagte doch wenig. Das hatte gute Gründe: Sie war nämlich in zweiter Ehe mit Kim Philby, dem englischen Top-Agenten im Dienste des KGB, verheiratet. Sie war Kommunistin, hatte während des Krieges Illegale versteckt und sich mit Dissidenten getroffen. Sie lebte gerne feudal, war stilbewusst und gebildet; Ästhetik schien ihr wichtiger als Politik. Und doch führte sie zeitweise ein Doppelleben an der Seite eines der aktivsten Spione Russlands.
Widersprüche prägten ihr Leben, so viel wird nach der Lektüre des Romans deutlich. Sie genoss alle Privilegien, gab sich aristokratisch, bewahrte immer Haltung: „Sie wünschte nämlich den einfachen Menschen, wie sie sie nannte, von ganzem Herzen alles Gute, wenn sie ihr bloß nicht auf den Leib rückten.“ Doch ihr Weltbild, ihre Begeisterung für den Aufbau der DDR blieb selbst ungebrochen, als Stalins Gräueltaten bekannt wurden und die Häftlinge aus den Gulags zurückkehrten.
Spätestens hier setzt die Verärgerung der Autorin ein, die „das andeutungsvolle Erzählen und viele Verschweigen“ ihrer Mutter hasste, die auf Mutmaßungen über ihre politischen Aktivitäten, über ihre Rolle im Geheimdienst und ihr Wissen angewiesen ist. Das Buch gewinnt hier gleichsam eine therapeutische Dimension, wenn im Akt der schreibenden (Selbst-)Vergewisserung Einsichten in das Unerklärliche gewonnen werden. Honigmann fächert ein Leben auf, in dem es nicht wenige weiße Blätter gibt. So ein Umstand schadet naturgemäß jedem Buch, das einen biografischen Ansatz verfolgt und am Ende Fragment bleiben muss.
Trotzdem ist der Versuch aller Ehren wert, weil er über die Person der Mutter hinaus politische und kulturhistorische Perspektiven eröffnet. Honigmann ist eine viel zu intelligente und routinierte Autorin, als dass sie das offenkundige Vakuum nicht geschickt zu nutzen imstande wäre. Wunderbar verbindet sie Spekulatives mit Anekdotischem, große Geschichte mit kleinen Geschichten, Emotionen mit Informationen. Gerade durch diese Brüche und Verbindungen wird das Buch nicht zur Abrechnung. Weil es seine kritischen Konnotationen nicht verbrämt, sondern die eigene Hilflosigkeit, ja Trauer offen artikuliert: „Sie hat mich geboren, und nun setze ich sie wieder als Legende in die Welt. Kurz hinter der Wahrheit und dicht neben der Lüge, so wie es ihr Credo war.“
Barbara Honigmann: „Ein Kapitel aus meinem Leben“. Hanser Verlag, München 2004. 142 Seiten, 15,90 Euro