Die Schlangengrube

Najem Wali zeichnet in „Die Reise nach Tell al-Lahm“ eine groteske Topographie des Iraks zwischen den Kriegen

Als der irakische Exsoldat Najem 1991 geschlagen von der kuwaitischen Front nach Hause zurückkehrt, erwartet ihn eine unschöne Überraschung: Seine Frau Wadschiha ist durchgebrannt – und zwar ausgerechnet mit dem Nachbarn, dem Palmenkletterer und Hahnenbändiger Asiyad Lutfi. Dessen Frau Ma’ali eröffnet ihm die Neuigkeit und überredet ihn zugleich, in einem gestohlenen Mercedes dem entflohenen Paar hinterherzujagen: eine Reise quer durch den Irak, auf der sich vor dem Leser nicht nur die seltsamen Lebensgeschichten der Protagonisten, sondern auch die bizarre Geschichte eines gebeutelten Landes ausbreitet.

Der Irak, den Najem Wali zeichnet, gleicht einer Schlangengrube: Nichts ist, was es zu sein scheint. Jeder trägt mindestens ein dunkles Geheimnis mit sich, und wer dabei wen betrügt, bleibt meistens undurchsichtig. Ebenso unklar ist die Frage, wohin die Reise der Zwei-Personen-Notgemeinschaft eigentlich geht, und was sie an ihrem Zielort letztlich erwartet.

Der irakische Schriftsteller Najem Wali lebt seit 1980 in Deutschland, wo er heute als freier Autor für arabische Tageszeitungen wie Al-Hayat oder die Deutsche Welle arbeitet. Seit den Achtzigerjahren hat er mehrere Erzählbände und Romane in arabischer Sprache veröffentlicht, von denen nur ein Teil auch auf Deutsch erschienen ist. Seit im vergangenen Jahr der Krieg gegen den Irak heraufdämmerte, trat er mit Essays in meinungsbildenden Zeitungen wie der Zeit oder der Süddeutschen Zeitung, aber auch als Studiogast bei Johannes B. Kerner als engagierter Gegner des irakischen Regimes in Erscheinung, und als entschiedener Kritiker der deutschen Friedensbewegung, der er mangelnde Empathie für die irakische Bevölkerung vorwarf.

Sein Roman „Die Reise nach Tell al-Lahm“ ist nun noch in der Zeit nach dem zweiten Golfkrieg angesiedelt, spielt also kurz nach dem Rückzug der irakischen Armee aus Kuwait 1991. Das Buch erschien bereits vor drei Jahren im Original und wurde prompt in mehreren arabischen Ländern verboten. Wenn man die deutsche Übersetzung liest, wird einem schnell klar warum: Denn der Roman steckt voller derber Seitenhiebe auf eine hochtrabende Moral, die mit den gesellschaftlichen Realitäten längst nicht mehr zusammenpasst. Die Frauen lassen sich vor der Hochzeit ihr Jungfernhäutchen annähen, die Abtreibungsbranche floriert, Eheleute arbeiten ohne das Wissen ihrer Partner dem Geheimdienst zu und der Staat fördert die Prostitution als Teil seines Fünfjahresplans.

In Walis märchenhaften und burlesken Erzählstil mischen sich immer wieder politische Anspielungen: So wenn Waffen-Emissäre aus Deutschland, Frankreich oder Lateinamerika dem „Herrscher“ ihre Aufwartung machen, der seine Auftritte in der Öffentlichkeit stets mit Potemkin’schem Aufwand inszeniert. Oder wenn sich der Unterschlupf des wundersamen Dschassaniya-Fischs, der dem Diktator zu Ehren aus dem Wasser geholt wird, als Geheimdepot für Waffen aller Art entpuppt.

Als Gebrauchsanweisung, den heutigen Irak zu verstehen, lässt sich der Roman natürlich nicht lesen. Aber als Ausflug in eine ins Fantastische gewendete Topographie des irakischen Terrors von gestern. DANIEL BAX

Najem Wali: „Die Reise nach Tell al-Lahm“. Aus dem Arabischen von Imke Ahlf-Wien. Hanser, München. 319 Seiten, 21,50 Euro