: „Athleten als Versuchskaninchen“
Interview FRANK KETTERER
taz: Herr Prof. Müller, wann haben Sie das erste Mal von Tetrahydrogestrinon, kurz: THG, gehört?
Prof. Klaus Müller: Auch erst vor einer Woche. Das kam für alle überraschend.
Davor war das Mittel selbst in Fachkreisen unbekannt?
Ja. THG ist keine registrierte Substanz im Sinne eines getesteten, zugelassenen Arzneimittels.
Das bedeutet?
Alle anderen Dopingstoffe sind Arzneimittelwirkstoffe, die – früher oder aktuell – legitim in der Medizin angewendet und von Sportlern missbraucht worden sind. In diesem Fall ist erstmals ein Stoff für die missbräuchliche Anwendung, also für Doping, entwickelt worden.
War Ihnen das Ausmaß des Skandals sogleich bewusst?
Sowie es in den ersten Meldungen bekannt gegeben wurde. Die Amerikaner selbst haben ja von Anfang an von einem umfangreichen Skandal gesprochen. Das ist für mich denn auch der positive Aspekt: Dass die Amerikaner, im Unterschied zu früheren Vorgehen, diesen Fall offenbar wirklich aufklären wollen. Bisher ist jedenfalls keinerlei Tendenz erkennbar, dass etwas unter den Teppich gekehrt werden soll.
Handelt es sich um den größten Doping-Skandal, seit der Weltklassesprinter Ben Johnson 1988 bei den Olympischen Spielen des Dopings überführt wurde?
Zahlenmäßig auf jeden Fall. Es ist überhaupt das erste Mal, dass eine solche Affäre auf einen Schlag hochkommt. Bisher hatten wir bestenfalls eine zufällige Häufung von Einzelfällen.
Was wissen Sie mittlerweile über THG?
Es ist ein Steroid mit einigen strukturellen Abweichungen von jenen Steroiden, die man bereits kennt. Und damit ist so gut wie sicher, dass es auch für den gleichen Zweck entwickelt wurde, nämlich um den Muskelaufbau zu fördern.
Wie lange kursierte THG vor der Entdeckung in Sportlerkreisen?
Da können wir nur hoffen, dass es erst relativ kurz der Fall war und die Indiskretion, die zur Entdeckung geführt hat, schon bald aufgekommen ist. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass THG insgeheim schon längere Zeit angewendet wird und erst jetzt bekannt geworden ist. Das wird sich aber hoffentlich im Laufe der Ermittlungen herausstellen. Am wahrscheinlichsten scheint, dass THG ein paar Monate im Gebrauch ist.
Was ist das Besondere an THG?
Dass man es bisher nicht nachweisen konnte – eben weil es unbekannt war. Nachdem es nun gezielt analysiert wurde, ist dieser Effekt verflogen. In ganz kurzer Zeit wird die Analysestrategie für THG in allen Doping-Kontrolllabors eingeführt.
Bisher, Sie haben es bereits angedeutet, wurden in erster Linie als Arzneimittel entwickelte Präparate als Dopingmittel missbraucht. THG hingegen wurde explizit als Dopingstoff entwickelt. Ist der Sport-Betrug damit in eine neue Dimension vorgestoßen?
Ja, das könnte man sagen. Man hat erstmals die Entscheidung, ein neues Produkt herzustellen, mit der Absicht getroffen, dass man den Nachweis unterwandern möchte. Wobei man bei THG genau genommen gar nicht von Entwicklung sprechen kann. Es ist viel mehr ein Designerprodukt, das durch geringfügige Abweichung einer vorhandenen Struktur auf dem Reißbrett designt und dann im Labor hergestellt wurde. Die normalerweise auf eine Synthese folgende eigentliche Entwicklung eines Arzneimittelwirkstoffs, die aus einer sehr umfangreichen Prüfung der Nebenwirkungen und der möglichen toxischen Reaktionen besteht, ist hingegen komplett entfallen.
Bisher gingen auch Sie davon aus, dass es nicht rentabel genug ist, ein Mittel ausschließlich für den Dopingbetrug zu entwickeln. Warum gilt das für THG nicht?
Eben weil es nicht unter normalen Voraussetzungen produziert wurde. Die ganze Überprüfung des Wirkstoffs, wie sie ein registriertes Medikament durchlaufen muss, wurde ja, wie erwähnt, ausgespart. Genau diese Testphase aber ist es, die Unsummen verschlingt und die Entwicklung neuer Medikamente so teuer macht. Diese Kosten bringt der Dopingmarkt allein nicht ein. Die Herstellung von THG hingegen ist eine bloße Synthese, die relativ rasch gemacht ist.
Wie muss man sich die Erfindung eines neuen Betrugsstoffes wie THG vorstellen?
Dazu gehört nicht allzu viel. Die Gruppe der Steroide ist außerordentlich vielgestaltig. Das sind viele hunderte von Substanzen, von denen man ziemlich genau weiß, welche Einzelheiten an einem Molekül welche Eigenschaften ausbilden. Auf der andern Seite weiß man, dass geringfügige Änderungen an den Molekülen an diesen bekannten Eigenschaften nicht so sehr viel ändern.
Man baut also existierende Substanzen so um, dass sie zwar ihre alte Wirkung weitgehend behalten, aber doch neu sind – und damit nicht nachweisbar.
Ja, das ist die Idee, die dahintersteckt.
Die Ausgangsverbindungen von THG, so ist mittlerweile bekannt, sind Gestrinon und Trenbolon.
Das sind die nächsten Verwandten, jene Steroide, die man entsprechend abgewandelt hat, um zu dem neuen Produkt zu kommen. [Gestrinon wird als Medikament bei Wucherungen in der Gebärmutter eingesetzt, Trenbolon fand in den USA Mitte der 70er-Jahre in der Viehmast Anwendung; Anm. d. Red.]
Don Catlin, der Leiter des Doping-Labors in Los Angeles, der die Nachweismethode für THG entwickelt hat, befürchtet, solche im konspirativen Kreis entwickelten und vertriebenen Mittel könnten wesentlich gefährlicher sein als herkömmliche Steroide. Stimmen Sie dem zu?
Aber sicher. Weil keine richtige Testung erfolgt ist, kennt man auch das Wirkungsspektrum und dessen Variabilität nicht.
Die Sportler sind quasi ihre eigenen Versuchskaninchen?
Genau. Das gilt zwar auch in anderen Fällen, weil die meisten Dopingstoffe ohne ärztliche Veranlassung und meistens auch ohne ärztliche Kontrolle angewendet werden, hier aber ist es noch extremer.
Der Kugelstoßer Kevin Toth, einer der Ersten, die mit THG erwischt wurden, behauptet, er habe von der Einnahme nichts gewusst, sondern man habe ihm die Substanz in Nahrungsergänzungsmitteln untergeschoben. Ist das denkbar?
Denkbar ist es schon. Nur: Es wird sicher häufiger behauptet, als es zutrifft.
Remy Kurchemny, der Trainer des ebenfalls erwischten Sprinters Dwain Chambers, behauptet gar, es sei keineswegs bewiesen, dass THG ein anaboles Steroid sei, eben weil es keine Experimente und Studien damit gebe.
Das ist Unsinn. Weil eindeutig aufgeführt ist, dass bei dieser Stoffgruppe, den Steroiden, auch analoge Verbindungen ebenfalls verboten sind. Dass es zudem kein geprüftes Medikament ist, für dessen Anwendung es eine medizinische Veranlassung gibt, und illegal hergestellt wird, lässt nur den Schluss zu, dass es für die anabole Wirkung entwickelt wurde. Einen anderen Zweck kann es gar nicht haben.
Das steht fest: THG ist ein verbotenes Mittel, auch wenn es bisher nicht auf der Dopingliste stand, weil es schlichtweg nicht bekannt war?
Es ist ein in das Verbot einbezogenes Mittel. THG ist bisher zwar nicht explizit auf der Verbotsliste aufgeführt, aber eng mit Mitteln dort verwandt. Das reicht aus.
Warum ging es diesmal so rasend schnell, dass eine Nachweismethode für THG gefunden wurde?
Weil es eine Verbindung ist, die in das Spektrum der schon bekannten Substanzen fällt und damit den Nachweis so kompliziert nicht macht.
Auf die Schliche sind die Doping-Analytiker THG aber auch nur durch einen anonymen Hinweis eine Trainers gekommen, der gleich auch noch ein Spritze samt THG-Resten eingesandt hat. Sonst wäre vielleicht auch THG immer noch unentdeckt.
Da sind in der Tat mehrere Dinge zusammengekommen: zum einen eine gewisse Indiskretion, die den Verdacht überhaupt erst aufgebracht hat – und dann die gezielte Untersuchung. Wenn man vollkommen im Dunkeln getappt wäre – also nur gehört hätte, es soll ein neues Mittel geben, aber nicht gewusst hätte, um was es sich handelt –, hätte die Entwicklung der Nachweismethode sicher ein wenig mehr Schwierigkeiten gemacht und etwas länger gedauert.
Ab wann wird in Ihrem Labor in Kreischa auf THG getestet?
In den nächsten Tagen. Die Referenzsubstanz, also ein winziges bisschen jenes Mittels, das wir analysieren sollen, ist bereits auf dem Weg zu uns.
Wie weit zurück testen Sie Proben nun auf THG?
Das können wir nicht von uns aus machen, sondern es bedarf eines Auftrags von der Nationalen Antidoping-Agentur Nada oder den Sportverbänden. Ihnen gehören offiziell die Proben.
Muss man davon ausgehen, dass THG nur die Spitze des Eisbergs ist und es weitere Mittel gibt, die ausschließlich zu Betrugszwecken erfunden wurden und nach wie vor im Umlauf sind?
Das ist zu befürchten. Aber die Analytiker werden sich darauf einstellen.