: Jahrhundert-Sommer
Die heißesten Temperaturen seit Menschengedenken brachten in den deutschen Anbaugebieten extrem hohe Mostgewichte bei schlappen Säuren und Extraktwerten. Betrachtungen zum Jahrgang 2003
von MANFRED KRIENER
Traumhaft, einmalig, bilderbuchmäßig, wahnsinnig – die Attribute, in die man den Weinjahrgang 2003 eingehüllt hat, sind genauso überladen wie die Mostgewichte der gelesenen Trauben. Noch nie seit Menschengedenken wurde an Rhein, Main, Neckar und Mosel ein Jahrgang mit solch zuckerschwerem Erntegut gelesen wie in diesem Jahr. Doch auch wenn das in der öchslefixierten deutschen Weinwelt schnell zu entsprechenden Superlativen führte, gilt trotzdem: 2003 ist nicht nur traumhaft, er ist auch ein schwieriger Jahrgang, spannend in jedem Fall.
Ob die Qualität tatsächlich für die in jedem Jahr aufs Neue strapazierte PR-Vokabel vom „Jahrhundertjahrgang“ reicht, bleibt fraglich. Die entscheidende Frage: Worin sieht man eigentlich die Vorzüge deutscher Spitzenweine? Wer anmutige, feinrassige, finessenreiche Weine mit niedrigen bis mittleren Alkoholgraden bevorzugt, wird vom 2003er enttäuscht sein. Wer die plakative Kraft und Wucht liebt, wer eher dem mediterranen Weinstil zuneigt, der könnte von ihm begeistert sein. Rotweintrinker werden in jedem Fall ihre Freude haben, Säurefreaks werden Frust schieben.
Zur Erinnerung einige Zahlen dieses Jahrhundertsommers. Er brachte nicht nur zehntausende Hitzetote in Europa, sondern mit 40,8 Grad auch einen neuen deutschen Temperaturrekord. Mit 19,6 Grad in den Sommermonaten Juni, Juli, August war die Durchschnittstemperatur um 3,4 Grad höher als im langjährigen Mittel – ein Quantensprung. Am Kaiserstuhl wurde an 54 Tagen die 30-Grad-Marke locker überschritten. In Freiburg war es im Durchschnitt aller Sommertage wärmer als im nordafrikanischen Tunis. Für die sonst so sonnenhungrigen Rebstöcke war das eindeutig zu viel. Unter der Hitzeglocke von Hoch „Michaela“ kochten die Weinberge, in vielen Lagen breiteten sich Trockenstress und Sonnenbrand aus. Traubenhäute wurden runzelig, das Laub ließ die Flügel hängen, die Photosynthese ging auf null. Ralph Dejas, Weinberater beim Bernkasteler Ring, sah im August ganze Parzellen buchstäblich verdorren.
Wer seine Rebanlagen seit Jahren gut gepflegt hatte, wer über alte Stöcke mit tiefgründigen Wurzeln verfügte und vielleicht noch mit Strohabdeckung ein schnelles Austrocknen verhinderte, der überstand auch die schlimmsten Wochen. Andere hatten Glück mit lokal auftretenden Gewittern. Aber selbst akribisch arbeitende Topwinzer mussten teils gravierende Trockenschäden hinnehmen. Der vom Weinbauverband bejubelte „Supersommer“ war in Wahrheit zu heiß und zu trocken. In den besten Steillagen, wo sich die brüllende Hitze wie eine Glucke auf die Rebzeilen setzte, war der Trockenstress oft besonders schlimm. Gerade noch rechtzeitig wurden dann im September die Nächte wieder kühler.
Die im freien Fall befindlichen Säurewerte stabilisierten sich. Dennoch, und auch dies ist ein absolutes Novum in der deutschen Weingeschichte: Die Werte sind so niedrig, dass der Weinbauverband erstmals eine Ausnahmegenehmigung zur künstlichen Säuerung erteilte. 1,5 Gramm Weinsäure pro Liter dürfen dem unvergorenen Most jetzt zugesetzt werden. Martin Schmitt vom fränkischen Spitzenweingut „Schmitt’s Kinder“ in Randersacker hat bei einigen Müller-Thurgau-Partien – der Müller zählt ohnehin zu den säurearmen Vertretern – von der erlaubten Nachsäuerung Gebrauch gemacht.
Sie werde den pH-Wert absenken und damit die Weine biologisch stabilisieren, erklärt er. Bei den anderen Rebsorten seien die Säurewerte zwar niedrig, aber noch akzeptabel. Schmitt: „Unsere älteren Anlagen sind gut durch die Augusthitze gekommen, es wird ein wuchtiger, aber schöner Jahrgang.“ Das durchschnittliche Mostgewicht lag im Weingut bei deutlich über neunzig Öchsle – lauter stramme Spätlesen.
Bernd Philippi vom Weingut Koehler-Rupprecht im pfälzischen Kallstadt sieht „traumhafte Ergebnisse“ vor allem beim Rotwein. Selbst seine fast achtzigjährige Mutter hat „in ihrem Leben noch nie solche Trauben gesehen“.
Der vollreife Spätburgunder habe pechschwarz aus dem Hang geleuchtet – „alles über hundert Öchsle“. Allerdings ist auch in der Pfalz die Erntemenge niedrig. Auf rund zehn Prozent beziffert Philippi seine Verluste durch Sonnenbrand. Die Säuren seien ungewöhnlich schwach, aber nachhelfen will Philippi auf keinen Fall: „Warum soll ich mit künstlicher Säure rumspielen, das gibt grüne Noten im Wein und ist immer problematisch.“ Sein Riesling, der sonst die 9-Promille-Grenze in der Säure streift, wird in diesem Jahr auf der Flasche kaum mehr als 6,5 Promille erreichen. Für den Pfälzer Winzer dennoch kein Grund zur Klage. Dafür sei das Lesegut kerngesund. Und: Erstmals habe er in der Pfalz früher gelesen als in seinem zweiten Weingut in Portugal. Noch heißer als in der Pfalz war es am Kaiserstuhl. Cornelia und Reinhold Schneider in Endingen haben ihren Spätburgunder mit Öchslegraden bis zu 125 gelesen, „fast schon zu viel des Guten, aber wir konnten die Sonne ja nicht abstellen!“.
Mächtige, farbkräftige Rotweine mit bis zu fünfzehn Grad Alkohol werden in diesem Jahr im Badischen keine Seltenheit sein. Die Moste seien mit ihrer Wucht prädestiniert für den Ausbau im kleinen Eichenfass, sagt Cornelia Schneider. „Das werden sehr opulente Weine, die bestimmt keinen biologischen Säureabbau mehr brauchen.“ Die Menge war auch hier sehr klein, jede einzelne Traube habe zwanzig bis dreißig Prozent weniger Saft hergegeben als in normalen Jahren.
Nach dem Rekordsommer wird 2003 in jedem Fall ein aufregender Jahrgang, der allerdings sicher keine typischen deutschen Weine hervorbringt. Noch nie hatten deutsche Winzer solch „süßes“ Lesegut gekeltert, und noch nie mussten sie nachsäuern. Deshalb gibt es keine Erfahrungen, auf die man zurückgreifen könnte. Wie sich der 2003er dann tatsächlich probieren wird, steht auf einem anderen Blatt. Aromen und Geschmack halten sich oft nicht an pH-Werte, Öchslegrade und Säurepromille. Eines indes darf man schon jetzt befürchten: Der 2003er wird den Trend zu dicken, muskulösen Weinen ebenso verstärken wie die Rotweinmode.
MANFRED KRIENER, 49, Ex-taz-Redakteur, ist freier Journalist in Berlin und nebenbei Chefredakteur der Zeitschrift Slow Food. Er schreibt gern über Umwelt, Medizin und über andere „multiple Nekrosen“