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Archiv-Artikel

Das Staunen beredt machen

Heute erhält Alexander Kluge den Büchner-Preis: ein Autor, der Untergänge ausführlich beschreibt, aber doch nicht an Untergangsszenarien glaubt – und der, wie sein neues Buch zeigt, gerade die Märchen einsammelt, die die Wirklichkeit erzählt

Fast ein Triumph: Auch an Katastrophen gibt es für ihnviel zu bestaunen

von DIRK KNIPPHALS

Man staunt „nicht schlecht“ – eine dieser vielen Redewendungen, die wir haben, um verkürzendes Sprechen zu ermöglichen. Kann man aber auch gut staunen? Oder genau staunen? Listig staunen? Systematisch staunen? Sorgfältig staunen? Vielleicht sogar menschenfreundlich staunen im welthistorischen Maßstab? Alexander Kluge kann das alles, jedenfalls wenn Sie mich fragen.

Der Schriftsteller, Filmemacher und Fernsehmensch, der heute in einem großen Festakt den diesjährigen Büchner-Preis erhalten wird (was die strukturkonservativen Elemente des Literaturbetriebs hübsch aufmischt), ist nun natürlich ein Intellektueller mit überragend vielen Facetten. Fast ein Verbrechen, ihn auf einen Aspekt zu reduzieren. Wenn man sich aber als Nachgeborener daranmacht und darüber nachdenkt, was ihn als Schriftsteller so besonders macht, kann man darauf kommen, dass das – neben seinem unbefangenen Medienumgang und seiner noch unbefangeneren Negation der Grenze zwischen Fiktion und Realdokument – vor allem etwas mit seinen erstaunlichen Staunensfähigkeiten zu tun haben könnte.

Eigensinnig sind schließlich auch andere. Materialgebirge wälzt dieser und jener und vor allem auch Walter Kempowski. Alexander Kluge aber ist zudem noch ein Jäger und Sammler des Staunens. Bei ihm wird das Staunen zur literarischen Produktivkraft. Jedenfalls findet man es beinahe auf jeder Seite der drei dicken Ziegelsteine, die seine literarischen Geschichten mittlerweile so schön übersichtlich beherbergen (alle im Suhrkamp-Verlag). Vor drei Jahren hat dieser Autor in einer Art Alexander-Kluge-Reloaded-Verfahren sein gesamtes bis dahin vorliegendes literarisches Werk in zwei Bänden zusammengefasst, erweitert und neu montiert, kürzlich kam ein dritter, noch dickerer Band mit neu geschriebenen Geschichten hinzu. Und: Was Kluge selbst als „echolotartiges Abtasten“ menschlicher Erfahrungen durch Erzählungen beschreibt, lässt sich eben auch als Ergebnisse eines literarischen Bearbeitungsprozess lesen, an deren Anfang jeweils das Staunen gelegen haben muss.

Wer nennt die Namen, zählt die Szenen? Staunen kann man als Leser in dem neuen, für Kluge seltsam ungriffig mit „Die Lücke, die der Teufel lässt“ betitelten Band zum Beispiel über: Sigmund Freuds Rede auf dem Psychoanalytischen Prozess von 1917, in der Freud sagt, dass vom Geschlechtsleben mehr Todesfurcht ausgeht als vom Krieg; über die Onassis-Erbin, die von einem sowjetischen Spion geheiratet wird; über einen Selbstmordversuch, der misslingt und zu einer glücklichen Heirat führt; über viele andere Alltagsszenen, die ganz andere Ergebnisse als die gedachten hatten; über Schatzsucher und Generäle auf verlorenem Posten und auch über die Tücken des New Yorker Versicherungsrechtes, bei dem Zahlungen in Höhe von Milliarden Dollar davon abhängen, ob der Einsturz der beiden WTC-Türme ein Schadensfall oder zwei Schadensfälle sind – im letzteren Fall müssten die Versicherungen das Doppelte zahlen.

Ob Kriegsheimkehrer oder Eisenbahningenieure, Liebesgeschicke oder U-Boot-Kapitäne: irgendeine staunenswerte Wendung oder ein erstaunliches Detail findet Kluge immer. Oder haben Sie gewusst, dass Seen eine Oberflächenschwingung haben, die langsam absinkt, so dass heute noch in den Tiefen des Baikalsees die Oberflächenschwingung von 1917 aufbewahrt wird? Ob dieses Detail stimmt oder nicht, ist hier nicht die Frage, staunen muss man so oder so darüber.

Alexander Kluge wird gern als Dokumentar der deutschen Geschichte verstanden. Man kann ihn als Aufklärer der Gefühle sehen, als etwas eigenwilliger Vertreter der Frankfurter Schule, als Fachmann für Heiner Müller oder Opern, überhaupt als Anreger einer unübersehbaren Fülle von kulturgeschichtlichen Gesprächen, die er dann mit der Kamera aufnimmt. Dass er also auch ein literarischer Kosmos des Staunens ist, möge man sich nun bitte nicht kleinkindermäßig vorstellen möge (obwohl sich Kluge häufig auf Sichtweisen von Kindern beruft), sondern als ernsthaftes Arbeitsprinzip.

So kann man in den zur neuen Buchveröffentlichung und zum Büchner-Preis von Alexander Kluge viel, gern und gut gegebenen Interviews auf Sätze stoßen, die nahe legen, dass er im Grunde über die ganze Welt staunt: „Die Wirklichkeiten auf dem Planeten beginnen, ihre Romantätigkeiten zu intensivieren. Die Möglichkeit fängt an zu spinnen“, so heißt es in einem Gespräch mit dem Internet-Magazin Volltext.Net. Und man hat durchaus nicht das Gefühl, dass diese Unübersichtlichkeit Kluge schrecken würde. Denn mit dem Staunen allein ist es für ihn ja nicht getan. Eher scheint man ihn vor seinem geistigen Auge innerlich die Ärmel hochkrempeln zu sehen: Lieber spinnende Möglichkeiten als die Reduktion auf immer nur eine als möglich gedachte Realität. Schließlich bezeichnet Kluge das Erzählen von Geschichten als Bewaffnungsform gegen die Wirklichkeit.

An manchen Stellen des neuen Bandes gewinnt die Realität geradezu verzauberte Züge und man hat den Eindruck, Kluge betreibe ein Projekt der Poetisierung der Welt durch das Staunen – aber nicht in einem romantischen Sinne, sondern mit hoher Exaktheit. Etwa wenn er mit akribischer Genauigkeit belegt, dass der Zweite Weltkrieg sich auf Kämpfe im Irak hätte beschränken können, eine Argumentation, bei der sowjetische Ölfelder, britische Bomberstaffeln und ein deutscher Eisenbahningenieur zentrale Elemente sind. In solchen Episoden geht es nicht um verschwörungstheoretische Fantasieproduktion, sondern um Erkenntnis. Noch ein Satz aus dem Volltext-Interview: „Die Brüder Grimm würden heute nicht Großmütter nach Märchen befragen, sie würden die Geschichte des russischen Imperiums erzählen, durch die USA, Asien, Afrika reisen und auf diese Weise Märchen, die die Realität erzählt, sammeln.“ Nur mit Staunen kommt man der Welt noch bei.

Die Realität selbst schreibt Märchen, im Grunde unwahrscheinliche Romane – eine Situation, die Alexander Kluge geradezu anspornen muss. „Wir sind ungeheure Möglichkeiten“, hat er neulich auf einer Lesung in Berlin über den Menschen im Allgemeinen gesagt. Ungeheure Möglichkeiten zum Guten wie zum Bösen! Und über beide Möglichkeiten scheint Kluge staunen zu können. Wobei in ihm letztlich doch eine prinzipielle Menschenfreundschaft wirkt – auch angesichts aller durch Menschen verursachten und ausgehaltenen und also auch stets: möglichen Katastrophen. Neben dem 11. September spielen auch Tschernobyl, der Untergang der Kursk und der asymmetrische Krieg ihre Rollen in dem neuen Band (der Zweite Weltkrieg kommt natürlich auch weiterhin häufig vor). Aber, ein weiterer dieser so kompakten Kluge-Sätze: „Der Mensch ist nicht auf der Höhe des Bösen.“

Kluge betreibt ein Projekt der Poetisierung der Welt durch das Staunen

So hat das Staunen über die Möglichkeiten des Menschen nichts Distanziertes und nichts Kopfschüttelndes, bei aller kühlen Kargheit, mit der Kluge seine Geschichten aufschreibt. Eher schlägt es in eine Art Urvertrauen um: darin nämlich, dass es auch Möglichkeiten in eigentlich aussichtsloser Lage gibt. Eine der neuen Geschichten heißt „Suche nach Glück bei nahem Untergang“. Das könnte über viele der Geschichten stehen; selbst angesichts des Untergangs nach Glück zu suchen wäre übrigens wohl auch eine Maßnahme, die Kluges vollste Sympathie genießt.

„Wer meine Erzählungen liest, wird nicht annehmen, dass ich an Untergangsszenarien glaube“, hat er in die Einleitung des neuen Bandes hineingeschrieben. Gibt es doch, fast ein Triumph, auch an Katastrophen viel zu bestaunen. Es kann gut sein, dass es vor allem seine Staunensfähigkeit ist, die Alexander Kluge davor bewahrt hat, ein Apokalyptiker zu sein.

Nun hat allerdings diesen Autor noch kein Mensch jemals mit einem erstaunten Gesichtsausdruck gesehen (während Kluge selbst gern betont, wie starken Eindruck die großen Augen Adornos auf ihn machten), und auch das ist erstaunlich. Eher macht Alexander Kluge den Eindruck eines Mannes, der auf alles eine Antwort oder in seinem Fall vielleicht eher: immer schon die nächste Frage weiß. Ein Widerspruch zwischen einem Sinn für Staunenswertes und einem prinzipiellen Selbst-nie-erstaunt-Sein, der vielleicht nur eine der Lücken ist, die Alexander Kluge lässt. Kann aber auch gut sein, dass es genau dieser Gegensatz bekommist, der Alexander Kluge so produktiv macht (und ganz nebenbei vor dem Kitsch bewahrt). Er kann sozusagen beredt staunen, eine womöglich wirklich seltene Fähigkeit.

Alexander Kluge staunt gewissermaßen stets mit Verstand und bleibt doch selbst bei den ungeheuerlichsten Wendungen seiner Geschichten, und davon gibt es viele, lakonisch. Auch da staunt man dann oft nicht schlecht.