: Eingebettete Frontberichte
Journalisten, die ihren Beruf richtig verstehen, dürfen sich von keiner Seite missbrauchen lassen. Gerade dort nicht, wo Krieg und Elend herrschen. Gibt es hierfür ein Rezept?
VON BETTINA GAUS
Die Medien manipulieren: Es dürfte kaum eine andere Einschätzung geben, der ein so großer Teil der Weltbevölkerung zustimmt. Unabhängig von religiösen, sozialen und weltanschaulichen Differenzen. Nie zuvor in der Geschichte ist den Medien eine vergleichbar große Macht zugeschrieben worden wie heute, und nie zuvor haben sie ein vergleichbar großes Maß an Aggression auf sich gezogen. Längst gelten Journalisten nicht mehr einfach nur als Chronisten des Geschehens. Immer häufiger werden sie als Partei wahrgenommen.
Zu Recht. Wir sind Partei. Alle. Das bedeutet nicht, dass wir uns auch alle den Vorwurf gefallen lassen müssten, die Tatsachen absichtlich zu verdrehen, gar zu fälschen. Die überwältigende Mehrheit der Journalisten tut das nicht und weist solche Unterstellungen mit Recht empört von sich. Aber entgegen einem verbreiteten Missverständnis geht es nicht darum, dem einzelnen Reporter individuelle Schuld anzulasten.
Das Problem ist umfassender. Wir sind vor allem dort Partei, wo wir uns dessen nicht bewusst sind: weil wir nämlich selbst nicht bemerken, in welch starkem Maße unsere Weltsicht in unsere Beurteilung einer Situation einfließt. Objektivität ist eine Chimäre, das Sein bestimmt das Bewusstsein. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Journalisten nicht vom Rest der Welt.
Fehleinschätzungen werden nicht dadurch weniger unerfreulich, dass diejenigen, die sie verbreiten, persönlich nichts dafür können. Es genügt eben nicht, Fragen zu stellen – man muss auch wissen, wonach man überhaupt fragen sollte. 1993 traf die Bundeswehr in Belet Huen ein. Das Krankenhaus der somalischen Kleinstadt bot für mitteleuropäische Augen einen erschreckenden Anblick. Es fehlte an fast allen medizinischen Geräten. Medikamente gab es keine, sie waren nur in umliegenden Apotheken erhältlich. Gegen Bezahlung, selbstverständlich.
War es also nicht einfach ein Segen, dass der Sanitätsdienst der Bundeswehr hier wohltuend wirken konnte? „Vorher war ich eigentlich skeptisch, aber jetzt denke ich doch, dass die Bundeswehr hier wirklich etwas Vernünftiges zu tun scheint“, meinte ein Fernsehjournalist. Er gehörte zum Tross der Reporter, die den früheren Verteidigungsminister Volker Rühe am neuen Einsatzort der deutschen Armee begleiteten, und er sollte genau das denken. Zu diesem Ergebnis konnte man der Bundesregierung nur gratulieren.
Die meisten derjenigen, die Somalia damals besuchten, beschäftigten sich seit Jahren mit Sicherheitspolitik, und sie verstanden viel von Themen, die mit der Bundeswehr zusammenhingen. Das ließ es einleuchtend erscheinen, dass gerade sie zur Begleitung der deutschen Truppen nach Afrika geschickt worden waren. Von Afrika verstanden sie allerdings nichts, und der Verlauf des journalistischen Programms bestätigte ein weiteres Mal die alte Erkenntnis: Man sieht nur, was man weiß. Was die deutschen Kollegen allesamt nicht wussten und deshalb auch nicht sahen: dass die örtliche Klinik besser ausgestattet war als viele andere afrikanische Krankenhäuser, übrigens auch in friedlichen Teilen des Kontinents.
Das Rote Kreuz hatte gerade angekündigt, fünfzig Kliniken in medizinisch besonders unterversorgten Gebieten von Somalia aufbauen zu wollen. Geschätzte Kosten bis Ende 1994: umgerechnet knapp fünfzig Millionen Mark. Der Einsatz der Bundeswehr in dem ostafrikanischen Land hat über dreihundert Millionen Mark gekostet. Um ambulante Sprechstunden in einem Hospital abzuhalten und ein paar tausend Liter Wasser in die Zisternen von Flüchtlingslagern zu füllen müssen nicht 1.700 Mann samt Fahrzeugen und Waffen um die halbe Welt geflogen werden. Das ist billiger zu haben.
Es wäre erfreulich, könnte man den Kollegen, die diesen Zusammenhang nicht hergestellt haben, schlicht eine unseriöse Berufsauffassung unterstellen. Dann ließen sich vergleichbare Situationen ja ganz leicht vermeiden – die Zentralredaktionen müssten eben bessere Reporter schicken. Leider ist das Problem so einfach nicht zu lösen. Die meisten derjenigen, die Somalia damals besuchten, waren gute und erfahrene Journalisten. Sie wussten eben nur nicht besonders viel über das Land, in das es einige Einheiten der Bundeswehr plötzlich verschlagen hatte.
Inzwischen ist das keine Ausnahme mehr. Der rasante technische Fortschritt der letzten Jahre – von der Computertechnologie bis zur Satellitentechnik – erzeugte eine ungeheure Beschleunigung der Nachrichtenübermittlung, einen dramatischen Bedeutungszuwachs der elektronischen Medien und damit wachsenden Konkurrenzdruck. Der wiederum dazu führt, dass die Bedeutung einer Nachricht weniger an ihrer langfristigen Wirkung als vielmehr an ihrem kurzfristigen Aufmerksamkeitswert gemessen wird.
Das romantische Bild der Kriegsberichterstattung, das manche Filme und Bücher bis heute zeichnen, hatte vermutlich auch früher nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun. Inzwischen ist es absurd. Reporter in Krisengebieten sind keine knorrigen, wagemutigen Einzelkämpfer, die sich tapfer durch Dschungel oder Wüste schlagen, stets auf der Suche nach der Wahrheit oder wenigstens einer Exklusivgeschichte. Sie sind vielmehr Teil einer gigantischen Medienindustrie – zu der nicht nur, aber auch die Unterhaltungsbranche gehört –, und sie sind sehr häufig im Pulk unterwegs, jedenfalls dann, wenn bestimmte Ereignisse gerade Schlagzeilen machen.
Im günstigen Fall beherrschen sie ihren Beruf. Was gerade in Krisengebieten auch bedeutet: misstrauisch und wachsam zu bleiben gegenüber allen Versuchen der Beeinflussung. Das ist im Krieg noch schwieriger als im Frieden, weil die Möglichkeiten der Gegenrecherche oft sehr begrenzt sind.
Im Irakkrieg ist mit dem – unangemessen gemütlich klingenden – Begriff der „Einbettung“ beschrieben worden, was seit vielen Jahren gängig ist: dass sich nämlich Reporter in Kriegsgebieten unter den Schutz einer Seite begeben. Dieser wird nicht uneigennützig gewährt. Wer Berichterstatter mitnimmt, weiß, was er ihnen zeigen will. Was wäre die Alternative? Oft der völlige Verzicht auf Informationen.
Ich habe mich Ende 1991 erstmals einer Konfliktpartei angeschlossen, um über ein Ereignis berichten zu können. Das Ergebnis war keine journalistische Glanzleistung. Wenige Monate nach dem Sturz des somalischen Diktators Siad Barre hatten Minister der – weder national noch international anerkannten – neuen „Regierung“ in Mogadischu einen Kollegen und mich eingeladen, mit ihnen in die Hafenstadt Kismayu zu fliegen, wo ihre Parteigänger gerade die Anhänger des alten Regimes in die Flucht geschlagen hatten.
Als ausländische Korrespondenten galten wir als unabhängige Quellen, und das entsprach unserem Selbstverständnis. Dennoch hat bei mir der psychologische Mechanismus glänzend funktioniert, dass man Menschen gerne für anständig halten will, die nett zu einem sind. Die neuen Herren waren sehr nett zu mir gewesen und sehr hilfsbereit. In der Reportage, die ich nach meinem Besuch schrieb, steht: „Niemand in Kismayu“ beschuldige die ehemalige Rebellenbewegung „irgendwelcher Übergriffe. Die schwerbewaffneten Kämpfer, von denen viele kaum älter als siebzehn Jahre sind, haben offenbar nicht einmal geplündert.“
Offenbar. Wenn ich den Artikel heute lese, kann ich mir kaum mehr vorstellen, wie naiv ich damals gewesen bin. Ich scheine mir nicht einmal die Frage gestellt zu haben, wie es Einwohnern von Kismayu wohl bekommen wäre, wenn sie einer deutschen Reporterin von Menschenrechtsverletzungen erzählt hätten, die diejenigen begangen hatten, die mit geschulterter Kalaschnikow freundlich lächelnd neben der Journalistin standen. Wie einfältig darf man sein, um über Angelegenheiten von Leben und Tod zu berichten?
Sehr einfältig. Je einfältiger, desto besser – jedenfalls aus Sicht derer, die ein Interesse daran haben, die Berichterstattung in ihrem Sinne zu lenken. In einem Bericht der 3. US-Infanteriedivision wird offen erklärt, weshalb Reporter im Irakkrieg mitgenommen wurden. Es habe der Wunsch bestanden, der irakischen Propagandamaschinerie etwas entgegenzusetzen.
Der Erfolg war aus Sicht der Militärs durchschlagend. „Es war offenkundig, dass das Programm unseren Erwartungen entsprach“, heißt es in dem Bericht. Weltweit hätten Medien über die „großartige Arbeit“ der 3. Infanteriedivision berichtet, „zutreffend und ungeschminkt“. Und weiter: „Insgesamt haben die eingebetteten Medien die negative Berichterstattung von Reportern außerhalb des Irak ausbalanciert.“ So würdigt man einen Propagandaerfolg.
Es gibt kein Patentrezept, das Reporter vor Beeinflussung schützt. Aber es gibt Hilfen. Je länger und intensiver sich Journalisten mit einem Arbeitsgebiet beschäftigen, desto skeptischer begegnen sie im Regelfall Informationen, mit denen sie von jeweils einer Partei gefüttert werden. Ich denke, dass ich ein halbes Jahr nach meinem ersten Aufenthalt in Kismayu erheblich weniger arglos war als sechs Monate zuvor.
Doch wie viele Medien räumen ihren ReporterInnen noch den Freiraum ein, sich ohne Zwang zur Tagesaktualität erst einmal in einer neuen Umgebung zurechtzufinden? Viele Medien verkleinern beständig ihr Korrespondentennetz. Folglich reagieren sie oft erst dann auf eine Entwicklung, wenn diese bereits weltweit Schlagzeilen macht.
Kriegsberichterstattung steht häufig unter dem Generalverdacht der Sensationsgier. Diese Sicht lässt außer Acht, dass es durchaus eine ethische Verpflichtung zur Berichterstattung über dramatische Entwicklungen gibt. Die Betroffenen haben einen Anspruch darauf, dass ihr Schicksal wenigstens zur Kenntnis genommen wird.
Aber wie kann dieser Anspruch eingelöst werden? Im Zusammenhang mit der Berichterstattung aus Krisengebieten gibt es kaum eine vergleichbar schwierige Aufgabe wie die, den Opfern über einen längeren Zeitraum hinweg eine Stimme zu verleihen. Es ist regelmäßig die militärisch überlegene Seite, die den höheren Unterhaltungs- und Informationswert zu liefern imstande ist. Erfolge sind dynamisch und wecken Neugier auf die weitere Entwicklung. Elend ist statisch und langweilig.
Militärische Siege und Niederlagen erlauben Schlussfolgerungen und Analysen, die über unmittelbar Aktuelles hinausweisen. Für Berichte über das Elend einer Zivilbevölkerung gilt das nicht. Die sechste Reportage aus einer Klinik, in der Verwundete versorgt werden, hat keine andere Botschaft als die erste: dass Wehrlose leiden.
Es gibt gewiss viele Zuschauer und Leser, die der Ansicht sind, das könne nicht oft genug erwähnt werden. Aber hören sie selbst auch jedes Mal zu und lesen sie die entsprechenden Artikel? Oder sind sie irgendwann – vielleicht gar relativ schnell – der Meinung, dass sie all das ohnehin wissen und dass entsprechende Informationen überwiegend für andere bestimmt sind?
Journalisten sind mehrheitlich weder abgebrühter noch mitleidloser als andere Leute, und sie verfügen nicht einmal über bessere Nerven. Wenn man über Krieg, Völkermord, Flüchtlingskatastrophen und Hunger berichtet, dann muss man Mechanismen entwickeln, um solche Ereignisse nicht allzu dicht an sich herankommen zu lassen. Sonst kann man weder seine Arbeit tun noch im privaten Leben mitfühlend bleiben. Die Abwehrreflexe, die dem Wunsch nach eigener psychischer Entlastung entspringen, unterscheiden sich nicht grundlegend von denen der Öffentlichkeit, die Katastrophen am Bildschirm verfolgt. Im Zentrum dieser Abwehr steht meist der Wunsch, sich von den Opfern innerlich zu distanzieren. Sie leben anders, sie fühlen anders, sie denken anders. Das ist ein bequemer Ausweg. Allzu bequem.
Die Abstumpfung menschlicher Not gegenüber scheint universal zu sein und unabhängig von politischen Interessen und Überzeugungen. Wer eine Militärintervention mit humanitären Argumenten begründen möchte, hat deshalb ein schmales Zeitfenster zur Verfügung, innerhalb dessen Fakten geschaffen werden müssen, soll nicht die Unterstützung der eigenen Bevölkerung verloren gehen. Wer hingegen nicht möchte, dass die Leiden einer Zivilbevölkerung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, muss nur eines tun: abwarten. Er kann darauf vertrauen, dass Medien und Öffentlichkeit binnen kurzem ihr Interesse anderen Themen zuwenden werden.
BETTINA GAUS, Jahrgang 1956, ist parlamentarische Korrespondentin der taz. Ihr neues Buch, das die Thesen ihres Essays vertieft, trägt den Titel: „Frontberichte. Die Macht der Medien in Zeiten des Krieges“ (Campus, Frankfurt am Main 2004, 193 Seiten, 19,90 Euro)