berliner szenen Job ohne Aussehen

Realistisch wirken

In der Friedrichstraße steht eine Frau in einer grauen Windjacke und verteilt Reklame. Sie hält sie den Leuten hin, das Lächeln wohl schon seit Stunden erstorben. Die Leute blicken sie nicht an, gehen einfach weiter, manche schieben mit ihrem Körper sogar die ausgestreckte Hand weg. Niemand nimmt einen Zettel, komplette Kommunikationsverweigerung, Ablehnung.

Wie frustrierend so ein banaler kleiner Mistjob sein kann, wie aufreibend und belastend. Sie tut mir leid, doch sie wirkt stark. Ein feines Gesicht, intelligent, erfahren, aber noch nicht alt. Na gut, sie hat den Mund zu, es gibt auch keinen Grund, ihn zu öffnen und aufzudecken, welcher Klasse man angehört – vielleicht noch gar nicht so lange. In anderen Klamotten wäre sie in jedem beliebigen Beruf vorstellbar. Sie sieht eigentlich nicht nach diesem Job aus, der keine Schande ist, außer für die, die ihn schlecht bezahlen.

Ich weiß nicht, ob ich stets nach meinen Jobs ausgesehen habe – das war für mich immer zweitrangig. Wenn ich Zettel verteilte, schmiss ich die meisten immer gleich weg, ging in die Kneipe und brachte später den Rest zurück. Das wirkte realistisch – den Ärger hatten die, die angeblich alle verteilt hatten. Wenn ich in der Pizzafabrik riesige Artischockendosen öffnete und bis zu den Knöcheln im Zitronensaft stand, hatte wiederum ich den Ärger. Wenn ich in der Puddingabteilung die ganze Nacht Grütze fraß, hatte MZ den Ärger.

Wenn ich im Krankenhaus Ärsche abwischte, hatte niemand den Ärger. Apropos Ärsche: Einmal hat sich der Bildhauer Klingbeil meinen angesehen. Danach durfte ich die Hose wieder anziehen und gehen. Ich war jung und hätte das Geld gebraucht. Das war ein Ärger. ULI HANNEMANN