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Archiv-Artikel

Dem Drachen fehlt jede Menge Feuer

Nach dem 0:2 seiner chancenlosen Waliser im Old Trafford gegen offensivfreudige Engländer kann Manchesters Stürmer Ryan Giggs wohl alle Hoffnungen begraben, doch noch mal eine Weltmeisterschaft spielen zu dürfen

MANCHESTER taz ■ Ryan Giggs kontrollierte den Einwurf, drehte sich mit dem Rücken zum Tor und wartete auf die Attacke Gary Nevilles. Der Engländer stürzte sich auf ihn, aber grätschte ins Leere – Giggs hatte ihm den Ball blitzschnell durch die Beine gespitzelt und war schon ein paar Meter weiter. Die Waliser Ecke im Stadion johlte begeistert.

Die kleine Demütigung des Vereinskollegen von Manchester United blieb leider der einzige glückliche Moment für Giggs am Samstagnachmittag. Nie zuvor dürfte sich der Flügelstürmer im heimischen Old Trafford mit einem roten Trikot auf dem Rücken so einsam und verloren gefühlt haben. Er war kaum involviert, musste zusehen, wie die Engländer sich unaufgeregt Chance nach Chance herausspielten und seine aus Zweit- und Drittligaspielern zusammengebaute Abwehr auseinander pflückten. Die englischen Fans, berauscht vom ersten britischen Bruderkampf seit 20 Jahren, pfiffen ihn 90 Minuten lang gnadenlos aus. Schon die walisische Nationalhymne war in ekelhaftem Gegröle untergegangen, besonders Dumme nutzten die Schweigeminute für die ermordete Irakgeisel Ken Bigley vor dem Anpfiff, um besonders laut „Fuck off, Wales“ zu brüllen.

Die Waliser wehrten sich mit „Rooney, du triffst nur im Bordell“, aber ihr Team hatte den Widerstand sehr schnell eingestellt. Verteidiger Andy Melvilles Verletzung beim Aufwärmen und die resultierende Umstellung hatte die Gäste so durcheinander gebracht, dass Frank Lampard schon nach drei Minuten das 1:0 erzielte. Sein Schuss traf Michael Owen an der Hacke und prallte ins Tor. Owen, bei Real Madrid, wie der Rest des königlichen Teams, in einer akuten Formkrise, hätte den Treffer gerne für sich reklamiert. Auch Trainer Sven-Göran Eriksson wünschte sich ein Erfolgserlebnis für seinen zaudernden Stürmer, aber die Fifa kann auf solche Befindlichkeiten keine Rücksicht nehmen und entschied sich für Lampard, den Chelsea-Mann.

Wo waren die Waliser? Ihre legendäre Leidenschaft und Aggression schien die Elf des ehemaligen United-Stars Mark Hughes irgendwo zwischen Cardiff und Manchester verloren zu haben. Man nennt sie „die Drachen“, nach dem Wappentier des Fürstentums. Doch aus den Nüstern kam kein Feuer, nur heiße Luft. Die Engländer, die unter dem Banner des versierten Drachentöters St. George antreten, hatten mit dem schlappen Ungetüm wenig Mühe. „Kein Wunder, dass die Drachen ausgestorben sind“, lachte der Sunday Mirror.

Ein anderes Monster fraß am Samstag die Gegenspieler auf: Wayne Rooney, der Bulle, glänzte in seinem ersten Länderspiel nach der EM als Spitze der Diamantformation im Mittelfeld hinter den Stürmern Jermaine Defoe und Owen. „Ich konnte überall hin, wo ich hingehen wollte“, freute sich der 18-Jährige über die neue Freiheit im System. Es wird interessant sein, ob Eriksson, der nicht gerade als Freund von offensiven Experimenten bekannt geworden ist, diese Variante auch gegen anspruchsvollere Gegner probiert.

Im Tofik-Bachramow-Stadion von Baku, benannt nach dem sowjetischen Linienrichter, der 1966 das Wembley-Tor gab, muss der Schwede am Mittwoch gegen Aserbaidschan erst mal seinen Kapitän ersetzen. David Beckham spielte mal wieder nur mittelprächtig, trotzdem gehörten ihm die Schlagzeilen: Er traf sehr schön zum 2:0-Endstand und verpasst den Trip nach Baku wegen Gelbsperre und gebrochener Rippe. Geruhsam wird die Pause daheim in Madrid allerdings nicht werden – der Sunday Mirror hat ihm gestern eine frische Affäre mit seiner Kosmetikerin angedichtet.

Giggs, vor Beckhams Aufstieg der beliebteste Star auf der Insel, war nach der Niederlage zu traurig, um zu reden. Er wird, das weiß er jetzt, wie der Nordire George Best einer der wenigen Ausnahmespieler seiner Generation bleiben, der nie bei einem großen Turnier dabei war. Mit 15 war er als Ryan Wilson noch Kapitän der englischen Schülermannschaft gewesen, doch nach der Scheidung seiner Eltern hatte er Namen und Mannschaft gewechselt. Am Samstag schlich er im getauschten Englandtrikot mit glasigen Augen aus dem Stadion. Schicksal nennt man so etwas, wahrscheinlich.

RAPHAEL HONIGSTEIN