Wir Europäer als Mörder und Opfer

Der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy hat den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen. In seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche erklärt er, warum es Martin Walsers „Moralkeule“ gar nicht gibt. Und das, ohne den Preisträger des Jahres 1998 namentlich zu erwähnen

VON PÉTER ESTERHÁZY

Ein jeder Festredner ist schrecklich, so werde ich beginnen. Sagte Kornél Esti*. […]

Als ich von diesem Preis erfuhr, fiel mir nacheinander Folgendes ein: 1. das Krawattenproblem, 2. gelobte ich mir, a) was Kant über den ewigen Frieden geschrieben hat, nicht zu lesen, nein sagen wir: nicht wieder zu lesen, und b, für den Fall, dass ich es wage, das Wort Keule unbedingt in der Rede unterzubringen. […]

Wenn von der Nation und insbesondere von der nationalen Identität die Rede ist, stellen die Deutschen meist überaus ungarische Fragen. Die Keule erinnert mich daran, wie viele Fragen sich die Deutschen bereits gestellt haben, und zwar beispielhaft, und sie erinnert mich an die nicht gestellten Fragen.

Von jener Arbeit an der Sprache, auf die die Keule hinzielt, hat mein Land und haben die neuen Europa-Länder – da haben wir das wundersame Leben der Wörter: den Ausdruck „neue Länder“ verwende ich hier nicht im Sinne der Rumsfeld’schen Aussage – von jener Arbeit also haben diese Länder so gut wie nichts erledigt. Warum nicht? Halt so. Wir hatten keine Lust. Weder Lust noch Kraft.

Mit uns passiert irgendwie alles so schnell, zu schnell. Der Weltkrieg und eine Diktatur waren zu Ende, gleich darauf hat eine neue Diktatur begonnen. Als sie zu Ende war und wir hätten begreifen können, was es bedeutet, in einem freien, souveränen Staat zu leben, musste man bereits darüber nachdenken oder hätte darüber nachdenken sollen, was es bedeutet, auf einen Teil dieser Souveränität freiwillig zu verzichten. Wir schaffen es nicht, dem Leben mit unseren Gefühlen nachzukommen. Die Probleme, falls wir sie überhaupt beim Namen nennen können, kehren wir unter den Teppich, und gleich darauf weisen wir die Unterstellung zurück, etwas unter den Teppich gekehrt zu haben. Was für ein Teppich, wir haben ja gar keinen, behaupten wir, den haben die Kommunisten gestohlen. Die Kommunisten, das heißt, die anderen

Und schon sind wir bei der uralten Frage angelangt: Wer ist ein Ungar, was ist ein Ungar – sprich: ein Deutscher.

Differenziertes Selbstmitleid

Das deutsche Selbstmitleid ist differenzierter als das ungarische, es steckt mehr Arbeit dahinter, und die verbietet zum Beispiel, über sich selbst in einer nationalistischen oder rassistischen Sprache zu reden.

Kein Zufall, dass es für Vergangenheitsbewältigung im Ungarischen kein Wort gibt. Das Wort fehlt, weil die Tätigkeit fehlt, die Wörterbücher empfehlen umschreibende Begriffe. Das sollte ich, fällt mir gerade ein, vielleicht nicht kritisch hervorheben, denn womöglich geht es hier darum, dass die ungarische Sprache das, was die deutsche vergessen hat, noch weiß, dass man nämlich die Vergangenheit nicht bewältigen kann – daraus aber zieht die ungarische Sprache womöglich die falsche Folgerung, dass die Vergangenheitsbewältigung als Arbeit, als europäische Pflichtarbeit, nicht möglich sei.

Niemand kann die eigenen Probleme allein lösen. Es ist unter anderem eine Konsequenz der bereits gestellten deutschen Fragen, dass wir unsererseits keine Fragen stellen, die sich auf uns beziehen, und unter anderem können die Deutschen wegen unseren nicht gestellten Fragen die noch fehlenden Fragen nicht stellen.

Die Deutschen haben die eigenen Vergehen beim Namen genannt, die eigenen Leiden haben sie nicht beim Namen genannt.

Die eigenen Missetaten durch die deutschen Missetaten zu verdecken, ist eine europäische Gewohnheit. Der Hass gegen die Deutschen ist Europas Fundament in der Nachkriegszeit.

Der nicht verarbeiteten, stumpfen ungarischen Nationalerinnerung – dieses Wort entspricht den Wörtern Nationalgericht, Nationalgarde, Nationaleinkommen –, dieser Erinnerung gefällt es, sich ausschließlich und fortwährend als Opfer zu sehen (das ist ein allgemeiner osteuropäischer Reflex). Die deutsche Nationalerinnerung ist wesentlich weiter, sie nennt die eigene Verantwortung beim Namen. Da sie aber die Verantwortung anderer nicht nennen kann (sobald sie das versucht, wird sie auf hysterisches Misstrauen stoßen) und weil wir, die anderen, die eigene Verantwortung nicht benennen – wirft diese offensichtliche Ungerechtigkeit das deutsche Selbstmitleid an. Was vereint sein sollte, zerfällt in Selbsthass und Selbstmitleid, neben der Unwahrheit des Nur-Mörders steht die Unwahrheit des Nur-Opfers – und hinter diesen beiden Dingen das ungeklärte „wir“, die ungeklärte Nationalerinnerung. Dieses nicht Geklärte sehnt sich ebenfalls hysterisch nach einer „Normalität“.

Da es übrigens normale Länder nicht gibt, weil die Normen überall verraten wurden, überall gab es zum Beispiel „volle Boote“, ist die Sehnsucht nach Normalität nur der Wunsch, an der Amnesie, mit der andere Länder den eigenen Verrat behandeln, teilhaben zu dürfen; eine solche niederträchtige Großzügigkeit ist Deutschland wirklich untersagt, was wirklich diskriminierend ist.

Eine gesamteuropäische Übereinstimmung unseres Wissens über uns selbst als Mörder und Opfer ist noch nicht entstanden. Um zu sehen, dass es einen anderen, der die Keule über unseren Köpfen schwingt, nicht gibt, müssen wir auf nichts als das Mitgefühl und das persönliche Erleiden bauen, das ist die Voraussetzung; Mitgefühl und persönliches Erleiden – alle Hände sind unsere Hände, es gibt keine fremden Hände, folglich gibt es keine Keule.

Ohne Vergessen keine Erinnerung

Eine Übereinstimmung von unterschiedlichen Erfahrungen, vom unterschiedlichen Wissen, ist wirklich ungeheuer schwer. Das ist mir auch anhand des eigenen Lebens bekannt, und ich will nicht behaupten, dass ich das Übereinstimmen bereits hinter mir hätte. Ohne Erinnerung gibt es keine Moral, habe ich in einem Roman gelesen. Aber ohne Vergessen gibt es keine Erinnerung. Wir können uns nur erinnern, wenn wir vergessen können. Manchmal können uns die paradoxen Funktionen der Literatur dabei helfen. Etwas kollektiv zu wissen und zur Kenntnis zu nehmen, macht das persönliche Vergessen möglich. Bücher erzählen Geschichten, damit man die eigene Geschichte nicht erzählen muss. Wenn man über etwas nicht länger reden will, sagt man im Ungarischen: Schleier darüber. Diese Wendung ist genauer als das deutsche Schwamm drüber, weil der Schleier das, was vorhanden ist, nicht wegwischt. Ein bisschen sehen wir das Verdeckte noch, aber nicht so unmittelbar, dass es wehtun könnte. Oder es tut weh, aber es geht nicht gleich um Wunden.

Ein Roman hat keine verbesserte Ausgabe, weil es sie nicht geben kann. Das Leben eines Menschen hat keine verbesserte Ausgabe, weil es sie nicht geben kann. Auch die Geschichte hat keine verbesserte Ausgabe. Daran zeigt sich meiner Ansicht nach – und das ist keine allzu tiefschürfende Entdeckung – das Wunderbare des Lebens. […]

Ich komme aus einem Land, sagte oder sagt oder würde Kornél Esti sagen, wo die Überheblichkeiten einer grobschlächtigen osteuropäischen Spaßgesellschaft und der drohende, kleinliche Bärenernst entleerter Traditionen unmittelbar nebeneinander existieren.

Viele Arten des Ernstseins

Mittlerweile hat sich vieles verändert, und verändert haben sich auch die Proportionen des Ernstes und des Unernstes. Die Diktatur ist zu Ende, zu Ende die zweipolige Welt, doch ist das alte Bild nach wie vor schön, es ist uns nach wie vor lieb, als Don Quijote lächerlich gegen die Windmühlen des Ernstes anzukämpfen. Das ist selbst dann noch ein schönes Bild, wenn wir inzwischen wie Sancho Panza aussehen. Als gäbe es nicht einmal mehr Windmühlen, mit einem Mal ist alles funny geworden. Alle lachen über alles. […]

Das ist mein persönliches Problem, das ist das stilistische Problem, das ich Tag für Tag lösen muss, das Problem, das jeder einzelne Satz von mir enthalten muss. Er muss nicht nur mit dem leeren Ernst und dem gehaltvollen Unernst rechnen, sondern auch mit dem neuen vielfältigen Unernst. In dieser neuen Ordnung von Ernst und Unernst muss der Satz seinen Platz finden. Er muss aussprechen können, dass doch nicht alles geht, und das muss er ohne den muffig anmaßenden Schulmeisterton sagen; er muss Ja und Nein sagen können, während man weiß, dass die wichtigen Wörter der Literatur eher das Vielleicht und das Möglicherweise sind, vielleicht.

Der Satz muss die Bequemlichkeit der falschen Freiheit und der falschen Ordnung vermeiden, ohne sich für einen Hüter der Wahrheit zu halten. (Die falsche, unechte Freiheit hatte den 11. September schon am nächsten Tag vergessen, die falsche, unechte Ordnung benutzt dieses Datum, um ihre alten, autoritären Pläne zu legitimieren. Aber möglicherweise trifft das nur bei uns in Ungarn zu. Wir reden und reden darüber und haben den Tag vergessen.) Unser Leben geht weiter wie eh und je. Wie denn sonst?!

Es gibt viele Arten des Ernstseins: schön, hässlich, humorlos säuerlich oder gehoben, es gibt den feigen Ernst, der sich vor der Freiheit fürchtet, und es gibt den notwendigen Ernst, der gerade aus der Freiheit erwächst. Aber der Ernst ist keine Heimat für mich, das ist nicht der Ort, wo ich zu Hause bin, deshalb möchte ich weiterhin dem europäischen Unernst die Ehre erweisen.

Wenn ich auf einem Podest stehe, gibt es kein Podest, es gibt keine bevorzugte Redeweise, wenn ich auf einem Podest stehe, hinter dem Pult, das sich also in diesem Es-gibt-nicht befindet, fällt mir automatisch Ernst Herbeck ein, der Geisteskranke und Dichter und sein Gedicht über die Einsamkeit:

Die Einsamkeit ist ähnlich

eine Versammlung und

dann, wenn ein Herr eine

Rede hält.

Sie soll interessant sein,

um die Einsamkeit zu

überwinden. Danke!

* Kornél Esti ist eine Romanfigur des ungarischen Schriftstellers Dezsö Kosztolányi