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Archiv-Artikel

Traum ohne Tiger

Das WM-Duell zwischen Peter Leko und Wladimir Kramnik ist eng, doch prickelndes Schach bietet es kaum

„Auch wenn es beiden viel bedeutet, den WM-Titel zu gewinnen: So wie Wladimir Kramnik und Peter Leko derzeit spielen, beschädigen sie den Schachsport – und ihren eigenen Marktwert“, lässt selbst der sonst so besonnene irische Großmeister Alexander Baburin seiner Enttäuschung über den mit einer Million Franken dotierten WM-Kampf freien Lauf. Der Israeli Lew Psachis, in den 80ern sowjetischer Landesmeister und damit einer der stärksten Spieler auf dem Globus, fällt ebenfalls ein vernichtendes Urteil: „Keine der bisherigen Partien wird in der Schach-Geschichte in Erinnerung bleiben.“ Der Zwischenstand von 5,5:4,5 für Herausforderer Leko nach zehn der 14 Partien gerät in Brissago (Schweiz) zur Nebensache.

Drei der Duelle endeten im Tessin mit einem Sieger. Damit straften der Ungar und Kramnik die größten Lästerzungen Lügen, die weniger entschiedene Begegnungen prophezeit hatten. Doch die Unentschieden bringen die Schachfans auf die Palme. Remis sind auf hohem Niveau zwischen Weltklassespielern das natürliche Resultat – allerdings nicht nach kaum 20 Zügen, wie es bei der WM in der Hälfte aller Partien geschah. Am Samstag war es zum unrühmlichen Höhepunkt gekommen, als Leko und Kramnik 16 bekannte Eröffnungszüge heruntergespult und nach 88 Minuten friedlich die Hände geschüttelt hatten.

David Levy, Präsident der Internationalen Schachcomputer-Vereinigung ICGA, ätzte daraufhin: „Stellen Sie sich zwei Boxer vor, die in zwei entgegengesetzten Ringecken vor sich hin tänzeln und nur alle paar Runden einmal aufeinander losgehen, weil sie einen glücklichen Niederschlag durch den Kontrahenten fürchten. Wenn das die Einstellung von Schwergewichtskämpfern wäre, wie lange wäre Boxen dann noch ein Zuschauersport?“, spottete der Schotte und verweigerte „den Applaus“ für den vermeintlichen „Inbegriff des Professionalismus“ am Brett. Der russische Meisterspieler Wladimir Barski assistierte Levy verbal. Die Schlussstellung nach 16 Zügen sei „offensichtlich tot remis! Leko wie Kramnik können das klar und deutlich erkennen. Deshalb verschwenden sie an dieser Stelle keine weitere Energie mehr. Eher Sterbliche spielen diese Position weitere 40 Züge“, kommentierte Barski hämisch.

Die harsche Kritik zeigte zumindest in der zehnten Partie am Sonntagabend Wirkung, als sich der unter einer Grippe leidende Kramnik 35 Züge um den Ausgleich mühte. Doch mit einer umsichtigen Verteidigungsleistung rettete der 25-jährige Leko erneut ein Remis. Vier fehlen dem kaum zu überwindenden Weltranglistensechsten lediglich noch, um seinen bereits im Alter von elf Jahren angekündigten Traum, „Weltmeister zu werden“, wahr zu machen. Den Titel hätte Kramnik in diesem Fall dann wohl wegen eines Computers verloren. Der Weltmeister hatte einmal mehr die Eröffnungszüge heruntergespult und brachte dann im 24. Zug ein genial wirkendes Damenopfer, anstatt durch eine Zugwiederholung das gewohnte Unentschieden zu erzwingen.

Fatal dabei: Auf einem durchschnittlichen Rechner wähnen Schach-Programme Weiß durch das Damenopfer für einen nur halb so wertvollen Turm etwa eine Viertelstunde lang auf der Siegerstraße. Erst nach tieferem Schürfen ändern sie die Stellungsbewertung radikal und schwenken ins Lager von Schwarz um. Leko verbrauchte zwar fast seine komplette Bedenkzeit von zwei Stunden, fand aber die Widerlegung. Ein kurzer Ausbruch aus der Langeweile, weil Kramnik vermutlich seinen Computer bei der Partievorbereitung zu früh ausgeschaltet hatte.

Zumindest am Tag der 14. und letzten Partie, nächsten Montag, werden die Zuschauer für die 20 Euro Eintritt garantiert auf ihre Kosten kommen. Spätestens nach der Krönung des neuen Schach-Weltmeisters gibt es im Centro Dannemann Beeindruckendes zu sehen: Der WM-Sponsor eröffnet in seinem Hauptsitz am Lago Maggiore eine Dalí-Ausstellung. Das Meisterwerk „Traum, verursacht durch den Flug einer Biene um einen Granatapfel, eine Sekunde vor dem Aufwachen“ wird dem Unterlegenen sicher zu denken geben. Wäre er nur so aggressiv wie die zwei Tiger auf dem Ölgemälde zu Werke gegangen. Stattdessen bleibt jedoch nur das Aufwachen aus dem Albtraum.

HARTMUT METZ