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Russlands Schmuddelecke

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Nikolai Samygin starb noch in derselben Nacht. Der junge Mann war beim Anschlag einer Selbstmordattentäterin Ende August an der Moskauer Metrostation „Rischskaja“ schwer verletzt und in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Tage vergingen. Nikolai war das einzige Opfer, nach dem sich niemand erkundigte. Das machte die Ermittler misstrauisch, sie prüften die Fingerabdrücke des Verstorbenen. Nikolai, stellte sich heraus, hieß mit richtigem Namen Kitkejew und wurde seit drei Jahren wegen eines bewaffneten Überfalls auf Polizisten im Kaukasus gesucht. Er soll es gewesen sein, der die tschetschenische Attentäterin instruiert und in die U-Bahn begleitet hatte. Dass diese den Sprengsatz früher zündete, war wohl ein Versehen.

Kitkejew stammt aus der nordkaukasischen Teilrepublik Karatschajewo-Tscherkessien (KT). Seit einigen Jahren führen Spuren von Attentätern häufiger in diese einst verschlafene Bergrepublik. Längst sind es nicht mehr nur Tschetschenen oder deren „schwarze Witwen“, die sich dem Terror verschrieben haben. Militante islamistische Gruppen entstanden in den letzten zehn Jahren in allen nordkaukasischen Republiken.

Die Tscherkessen

Wie alle sieben russischen Kaukasusrepubliken hängt auch KT am Moskauer Subventionstropf. Früher traf sich an den tscherkessischen Hängen der Viertausender Sowjetrusslands die Boheme zum Après-Ski und sicherte den Bergbauern ein bescheidenes Auskommen. Heute bleiben die Urlauber aus. Stattdessen haben radikale Islamisten unter der arbeitslosen Jugend in den abgelegenen Dörfern großen Zulauf.

1999 wurden Tscherkessen erstmals mit Terroranschlägen in Verbindung gebracht. Bei Explosionen von Wohnhäuser in Moskau und im südrussischen Wolgodonsk starben damals hunderte von Menschen. Diese heimtückischen Terrorakte dienten Moskau als Vorwand, den zweiten Tschetschenienkrieg in fünf Jahren vom Zaun zu brechen. Den endgültigen Beweis für einer kaukasische Spur blieb Moskau indes bislang schuldig.

Im Mai errichtete die Regionalregierung in der Hauptstadt Tscherkesk, von der russischen Öffentlichkeit kaum beachtet, einen Sperrgürtel an der Grenze zu Georgien und der Nachbarrepublik Kabardino-Balkarien. Die Orte dahinter sind nur noch mit Sondergenehmigung zugänglich. Russland erhofft sich davon, die in den Städten Churschuk, Utschkalan und Utschkeken besonders aktiven wahhabitische Djamata (Gemeinschaft der Gläubigen) besser überwachen zu können. Die Gläubigen dort haben sich vom Geistlichen Direktorat der Moscheen losgesagt und predigen offen die Lehre eines „reinen Islam“.

Karatschajewo-Tscherkessien ist wie die Nachbarrepublik Kabardino-Balkarien (KB) ein Kunstprodukt der sowjetischen Nationalitätenpolitik. Stalin pferchte jeweils zwei Völker zusammen, die sprachlich, ethnisch und kulturell miteinander nichts gemein hatten. Genauso gut hätte Moskau auch verwandte Ethnien, Kabardiner und Tscherkessen sowie die turksprachigen Balkaren und Karatschaier, in einer Autonomie zusammenfassen können.

Die UdSSR ließ sich indes von der Maxime „Divide et impera“ leiten und schuf wissentlich Konfliktherde. Zwistigkeiten untereinander, so das Kalkül, würden die widerborstigen Bergler binden und die Zentralmacht schonen. Die Strategie ging auf. In beiden Republiken ist das Verhältnis der Titularnationen von Misstrauen und unterschwelligem Hass geprägt. In KB klagen die Balkaren, in Politik und Wirtschaft benachteiligt zu werden, in KT sind es die Karatschaier, die sich diskriminiert fühlen.

Die Balkaren

Nach dem Untergang der UdSSR hofften die Balkaren, ein Stück Selbstständigkeit durch eine eigene Republik im russischen Staatsverband erlangen zu können. 1996, als die Lage sich nach dem Ende des ersten Tschetschenienkrieges gerade ein wenig beruhigt hatte, erklärten sie sich für souverän und riefen das Dorf Dolinsk zur Hauptstadt aus. Es blieb ein Traum. Fast ein Jahrzehnt danach sind die 90.000 Balkaren noch immer ohne jegliche politische Bühne.

Die traumatischste Erfahrung machten Karatschaier und Balkaren im Zweiten Weltkrieg. Während Stalin die Kabardiner und Tscherkessen nicht anrührte, ließ er Karatschaier und Balkaren unter dem Vorwand, sie würden mit der deutschen Besatzungsmacht kollaborieren, nach Kasachstan und Sibirien deportieren. Tschetschenen und Inguschen wurden ebenfalls zwangsumgesiedelt. 1957 hob Moskau die Verbannung auf, versäumte es aber, die offenen Gebiets- und Eigentumsansprüche der Heimkehrer zu klären. Seither kommt die Region nicht zur Ruhe.

Die Inguschen

Das Versäumnis belastet auch die Beziehungen zwischen Nordosseten und Inguschen schwer. In Beslan drohte während der Geiselnahme der Konflikt wieder offen auszubrechen, als sich herausstellte, dass unter den Terroristen auch Inguschen waren. 1957 nämlich hatten die inguschischen Heimkehrer die nordossetische Hauptstadt Wladikawkas und den benachbarten Bezirk Prigorodny Rayon als ihren angestammten Siedlungsraum betrachtet. Das kommunistische Regime schritt mehrmals gegen Unruhen ein, die man vor der Öffentlichkeit aber geheim hielt. Die Sympathien des Kreml galten immer den Osseten. Nach Ausschreitungen 1992 schickte Moskau 12.000 Soldaten und löste den Konflikt auf seine Weise: 70.000 Inguschen mussten nach Osten fliehen, 2.000 inguschische Häuser in Wladikawkas wurden niedergebrannt. Die Zahl der Opfer ist offiziell nie bekannt gegeben worden.

Trotz der Erniedrigungen erwiesen sich die Inguschen aber immun gegen die Verlockungen der Souveränität, denen die zur gleichen ethnischen Familie gehörenden Tschetschenen erlegen waren. Auch der fundamentalistische Islam findet dort erst Anhänger, seitdem der Kreml den Inguschen mit dem Geheimdienstmann Murat Sjasikow einen Präsidenten aufzwang, der im Volk nicht als Autorität anerkannt ist.

Radikale Spielarten des Islam sind dem Kaukasus ohnehin eher fremd. Religion, Gewohnheitsrecht und lokale Sitten gehen in der zerklüfteten Bergwelt vielmehr eine vielfältig schillernde Melange ein. Fundamentalistische Strömungen gewannen erst an Boden, wenn Gefahren von außen drohten und der Islam als Bindeglied die Wehrhaftigkeit der Völker stärken sollte.

Die Osseten

Die Osseten sind das einzige nordkaukasische Volk, das die russischen Kolonisatoren gegen Ende des 18. Jahrhunderts erfolgreich vom Islam zum Christentum bekehrten. Heute sind nur noch 15 Prozent Muslime. Im Kaukasus gelten die Osseten als besonders treue Bundesgenossen Moskaus. Schon im Kommunismus sagte man ihnen nach, das sowjetischste aller Kaukasusvölker zu sein.

Das zahlt sich aus. Als einziges Föderationssubjekt in der Region verzeichnet die Republik ein bescheidenes Wirtschaftswachstum. Sie profitiert seit fast zehn Jahren von den Feldzügen in Tschetschenien, da sich der russische Militäraufmarsch auf ihrem Territorium konzentriert.

„Wladi Kawkas“, zu Deutsch „Bezwinge den Kaukasus“, wie die nordossetische Hauptstadt heißt, ist mehr als ein bloßer Name. Dahinter verbergen sich Programm und Haltung einer Zentralgewalt, die sich über 200 Jahre nicht verändert haben. Der Gebirgszug mit seinen kantigen Bewohnern stand Russland schon damals bloß im Weg, er verriegelte den Zugang zum christlichen Georgien, das sich Anfang des 19. Jahrhunderts – aus Furcht vor den muslimischen Nachbarn – unter seine Schutzherrschaft begeben hatte. In Georgien nämlich sahen die Zaren einen Aufmarschplatz, von dem aus sie nach Persien und in das Osmanische Reich vorstoßen konnten. Der Anreiz zur uferlosen Landnahme schien unwiderstehlich. Auch heute verbaut die Fixierung auf eine Reichsidee den Blick auf eine mögliche Lösung der Konflikte im eigenen Haus.

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