: Das offensive Bekenntnis zum Islam
taz-Serie „Islam in Berlin“ (Teil 5): In Frankreich ist die Religion zurück im öffentlichen Leben. Anders als ihre Eltern und Großeltern betonen Jugendliche heute, Muslime zu sein. Ein Blick auf den Umgang mit dem Islam im Nachbarland
aus PARIS DOROTHEA HAHN
Kein politisch korrekt denkender Mensch in Frankreich hätte es gewagt, einen Mitbürger oder Kollegen öffentlich als „Muslim“ zu beschreiben. Allenfalls hätte er „Einwanderer“ gesagt. Oder: „Nordafrikaner“. Eine Einstufung nach religiöser Zugehörigkeit war tabu. Außerdem erinnerte das Adjektiv „muslimisch“ an Kolonialzeiten. Als es in Algerien noch BürgerInnen mit vollen Rechten und solche zweiter Klasse gab. Letztere hießen „muslimische Franzosen“.
Dieses Tabu galt jahrzehntelang. Umgekehrt hielten sich selbst Strenggläubige an die republikanische Regel, dass Religion reine Privatsache ist. Sie gingen sonntags in die Kirche. Schickten ihre Kinder in eine jüdische Schule oder zu einem christlichen Pfadfinderverein. Aber von öffentlichen Demonstrationen ihrer Religionszugehörigkeit sahen sie ab.
Seit den 90er-Jahren kehrt die Religion in das öffentliche Leben zurück. Sie erobert die Straße. Und die Sprache. In manchen Vorstädten tauchen immer häufiger Muslime mit Vollbärten und textilverhangenen Köpfen auf. Strenggläubige Gebetsräume haben Zulauf. Verlage, die Kassetten und Bücher mit religiösen Ratschlägen für sämtliche Lebenslagen vertreiben – von der Kleidung über den Sex, bis zur Kindererziehung – boomen. Und Jugendliche, deren eingewanderte Eltern und Großeltern alles daran gesetzt haben, sich mit der Masse zu vermischen, bekennen sich offensiv als Muslime.
Für viele Franzosen ist das ein Rückfall. Die Vertreibung der Pfaffen von der wirtschaftlichen und politischen Macht und aus den Schulen gilt als einer der großen Fortschritte der Revolution von 1789. Doch zeitgleich mit dem aggressiven Selbstbewusstsein mancher Angehöriger der zweiten und dritten Einwanderergeneration änderte sich auch die Sprache der konservativen Eliten. Am weitesten ging bei diesem Tabubruch Ex-Innenminister Sarkozy. Als er im vergangenen Jahr einen neuen Präfekten für eine Provinz vorschlug, führte er ihn als ersten „muslimischen“ Präfekten ein.
Sarkozy war es auch, der gleich nach seinem Amtsantritt im Frühsommer 2002 in aller Eile den „französischen Muslimrat“ zusammenschusterte. Da die Mitglieder des „Muslimrates“ von jenen Muslimen gewählt werden, die in Gebetsräume gehen, und da sich das Stimmrecht nach der Größe des Gebetssaales richtet, bauten zahlreiche Moscheen ihre Räume aus. Am Ende entpuppte sich der Rat als Trampolin für zuvor in der Öffentlichkeit kaum gehörte fundamentalistische Gruppen. Die den ägyptischen Muslimbrüdern nahe stehende Organisation UOIF bekam auf Anhieb die Mehrheit. Zum Präsidenten des Muslimrates bestimmte Innenminister Sarkozy dennoch den – von Algerien bezahlten – Rektor der großen Pariser Moschee. Einen moderaten Mann, der keinen Hehl aus seinen Sympathien für die französischen Rechten macht.
Seit es den Muslimrat gibt, sind die religiösen Anliegen der Muslime in Frankreich in der Öffentlichkeit allgegenwärtig. Die Themen reichen von der Einrichtung geeigneter Plätze für das Schächten bis hin zu der „Kopftuchdebatte“, die zu Jahresbeginn alle anderen politischen Themen verdrängte. Seit im März die überwältigende Mehrheit im französischen Parlament für ein Gesetz stimmte, das das Tragen sämtlicher religiöser Symbole in der Schule verbietet, hat sich die Debatte verlagert. Offiziell rief der „Muslimrat“ seither zur „Befolgung des republikanischen Gesetzes“ auf. Doch im Inneren der Gemeinden forderten UOIF und andere Gruppen die Mädchen auf, zum neuen Schuljahr verschleiert zu erscheinen. Im August beendete die Geiselnahme von zwei französischen Journalisten im Irak vorläufig diesen Doppeldiskurs. Die Entführer drohten, sie würden die Journalisten nur freilassen, wenn das Verbot religiöser Symbole an französischen Schulen abgeschafft würde. Daraufhin stellte sich der Muslimrat geschlossen hinter die französische Regierung.
Bei den meisten Muslimen in Frankreich hat der Rat kaum Gehör. Für sie ist er ein Organ der französischen Regierung. Die Mehrheit der Muslime geht nicht in die Moschee, hat den Rat nicht gewählt und fühlt sich auch nicht von ihm vertreten.