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Archiv-Artikel

Die IG Metall macht Ärger in Murrhardt

Tarifvereinbarungen für einzelne Firmen sind keine Seltenheit. Meistens werden sie von der Gewerkschaftsspitze abgesegnet. Doch es gibt auch Ausnahmen, wie ein Beispiel bei einer Waagenfabrik im Schwäbischen zeigt

BERLIN taz ■ Seit Monaten suchen Unionspolitiker und Unternehmensverbände nach einem Beispiel: Wo ist es schon einmal vorgekommen, dass sich Geschäftsleitung und Betriebsrat einer Firma geeinigt haben, die Löhne zu kürzen – und die Gewerkschaft dann blockiert hat? So ein Fall würde sich nämlich gut machen in der aktuellen Diskussion rund um den Flächentarifvertrag.

Seit neuestem kann der Arbeitsgeberverband Gesamtmetall mit dem ersehnten Beispiel aufwarten: In der Firma Soehnle gibt es Ärger. Der Waagenhersteller im schwäbischen Murrhardt ist seit längerem in der Krise, denn die Billigkonkurrenz aus Fernost ist groß. Die Filiale in der Schweiz wurde bereits aufgelöst; eine dort demontierte Produktionsstraße sollte ins Hauptwerk wandern. Allerdings verlangte die Geschäftsleitung unter anderem, dass die 130 Arbeiter in Murrhardt auf Teile ihres Lohns verzichten.

Die Beschäftigten waren einverstanden, der Betriebsrat zog mit. Doch die IG Metall legte ihr Veto ein. Sie monierte, dass die angemessene Gegenleistung für einen Lohnverzicht fehlt: Soehnle hat keine befristete Beschäftigungsgarantie ausgesprochen. Seither ist die Lage unübersichtlich. Die Firmenleitung droht, das Werk nach Rheinland-Pfalz zu verlegen. Die Beschäftigten drohen, aus der IG Metall auszutreten. Und die IG Metall fühlt sich „vorgeführt“. Ihr Bevollmächtigter Dieter Krauß hat „nicht den Eindruck, dass die Firmenleitung großes Interesse hatte, eine Regelung hinzubekommen“.

Strategischer Knackpunkt bei Soehnle: Die IG Metall hatte weder die Belegschaft noch den Betriebsrat hinter sich. Diese komplette Entfremdung zwischen Beschäftigten und Gewerkschaft ist allerdings sehr, sehr selten. Nur deswegen wird immerzu der „Fall Viessmann“ zitiert. Der nordhessische Heizungsbauer wollte 1996 eine neue Gasthermenproduktion starten und stellte die etwa 3.800 Mitarbeiter vor eine unangenehme Alternative: Entweder die Wochenarbeitszeit werde um 3 auf 38 Stunden erhöht – oder das neue Werk wandere gleich nach Tschechien ab. 96 Prozent der Belegschaft erklärten sich einverstanden.

Die IG Metall klagte gegen diese „Erpressung“. 1998 kam es schließlich zum außergerichtlichen Vergleich. Die Wochenarbeitszeit wurde schrittweise wieder auf 35 Stunden reduziert. Inzwischen habe Viessmann „einen astreinen Tarifvertrag“, freut sich die IG Metall.

Der Imageschaden war jedoch gewaltig. Der „Fall Viessmann“ eignet sich bis heute bestens als Paradebeispiel für die angebliche Allgewalt der Gewerkschaften. Er verdeckt, wie viele firmenspezifische Regelungen es schon gibt. 2002 haben 35 Prozent der Betriebe tarifliche Öffnungsklauseln genutzt.

Allerdings hätten noch sehr viel mehr Firmen gern den Lohn gekürzt oder die Arbeitszeiten verlängert. Doch etwa 50 Prozent aller Betriebe scheitern mit ihren Anträgen, wie ein Insider schätzt. Sie kassieren dann nicht nur ein Veto der Gewerkschaften, sondern auch von den Arbeitgebervertretern. Nachvollziehbar: Firmenchefs finden es nicht lustig, wenn Konkurrenzunternehmen ihr schlechtes Management durch Lohndumping wettmachen können.

ULRIKE HERRMANN