: Wie wiedergutmacht wurde
Ein israelisch-deutsches Forschungsprojekt untersucht die praktischen Aspekte der Wiedergutmachung. Nazi-Opfer beschrieben Bürokratie und peinliche Untersuchungen. Ein israelischer Historiker beklagt, das nur physische Schäden entschädigt wurden
VON HOLGER ELFES
Die zeithistorische Erforschung der Wiedergutmachung für Verfolgte des Nazi-Herrschaft verlagert sich gegenwärtig von der Frage ihrer politischen Durchsetzung hin zu Aspekten der praktischen Umsetzung von Wiedergutmachung. Zwar sind die Umstände des Zustandekommens der Entschädigungsabkommen zwischen Deutschland und Israel und die Motive der politischen Führer auf beiden Seiten weitgehend bekannt, doch die konkreten Entschädigungsverfahren und wie sie von den Opfern erlebt wurden, standen bisher noch nicht im Mittelpunkt der Untersuchungen.
„The practice of Wiedergutmachung“ heißt deshalb ein neues Forschungsprojekt, das sich gezielt diesem vernachlässigten Themenfeld widmet. Beteiligt sind deutsche und israelische Wissenschaftler. Geleitet werden die beiden Forscherteams von dem Bochumer Historiker Norbert Frei und José Brunner von der Tel Aviv University. Jeweils sechs deutsche und israelische Wissenschaftler werden sich mit der Entschädigungspraxis zwischen 1952 und 2002 beschäftigen. Es geht dabei um die Kompensationszahlungen für Sterilisierungsopfer, um Entschädigungen für Kommunisten oder für in Israel stationär behandelte Überlebende. Die German-Israeli Foundation (GIF) fördert das Projekt, auf der deutschen Seite ist es im Essener Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) des Landes Nordrhein-Westfalen angesiedelt.
Ziel ist es vor allem, das Maß des erzielten Rechtsfriedens aus der Sicht der Verfolgten darzustellen: Kritisiert wurde von den Opfern vor allem die oft lange Dauer und die Verbürokratisierung der Verfahren, aber auch ihre Verbindung mit peinlichen medizinischen Untersuchungen, so eine These der Forscher. Das auch empirisch zu untermauern, wird Aufgabe in den nächsten knapp drei Jahren sein.
„Muss man die Deutschen belügen?“, lautete die provokative Fragestellung von José Brunner bei der Auftaktveranstaltung zu dem Projekt in Essen. „Im Prinzip ja“, so das Fazit des interdisziplinär arbeitenden Historikers und Traumaforschers. Das heiße aber nicht, dass sich Opfer etwa Leistungen für nicht erfahrenes Leid erschummeln. Ganz im Gegenteil wird von ihnen nur ein Teil des Erlittenen überhaupt zur Sprache gebracht. „Die Opfer sprechen eine andere Sprache als die Täter“, so Brunner. Doch das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) von 1956, das danach mehrfach novelliert wurde, orientiere sich vor allem an der Logik einer zivilrechtlichen Entschädigung eines „normalen“, objektiv fassbaren Schadens. Die Verletzung der Gesundheit, die Beraubung der Freiheit, Vermögensschäden, die Beeinträchtigung der beruflichen Karriere und andere Schadensfälle sind im BEG definiert, wie sie auch definiert sind im Bürgerlichen Gesetzbuch für die Wiedergutmachung von Schäden aus Unfällen, Betrügereien oder Kapitalverbrechen. „Das BEG regelt die Bedingungen für einen Rechtsstreit, die Opfer verlangen aber nach einem Widerstreit“, argumentiert Brunner.
Der von dem französischen Philosophen Jean-François Lyotard geprägte Begriff bezeichnet eine Entgegensetzung unterschiedlicher Auffassungen, für die es keine allgemein anwendbare Urteilsregel gibt. Schlimmer als die Freiheitsberaubung war für die NS-Opfer häufig die tägliche Erniedrigung. Während ersteres in Wochen und Monaten messbar ist und zu Wiedergutmachungsleistungen führen konnte, bleibt die Demütigung, die zu schwersten Selbstwertzerstörungen oder gar zum totalen Verlust des Glaubens an Menschen oder Gott geführt hat, unberücksichtigt.
Immerhin über 43 Milliarden Euro, vorwiegend als Renten, wurden bis Ende des Jahres 2002 nach dem BEG an jüdische Opfer gezahlt, noch einmal rund 20 Milliarden aus anderen Entschädigungsfonds. Auf eins bis 1,5 Millionen schätzt Brunner die Zahl der Entschädigten. Wichtigster Wiedergutmachungsgrund waren körperliche und gesundheitliche Schäden. Doch ihre ganze Geschichte mussten die Opfer dabei verschweigen. „Die wurde in den auszufüllenden Formularen der deutschen Entschädigungsbehörden nicht abgefragt“, so Brunner. Was in der Konsequenz zu neuen traumatischen Erfahrungen in der israelischen Gesellschaft der 50er und 60er Jahre geführt habe. Hannah Arendt habe in ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ von Nazis als „neuen Tätern“ gesprochen, die nicht in das Schema der üblichen Strafgesetzgebung passten, da sie sich ja weitgehend innerhalb der von ihnen selbst gesetzten Rechtsnormen bewegten. „Allerdings hat bisher niemand von den ‚neuen Opfern‘ gesprochen“, merkte Brunner in seinem Vortrag an. Opfer, die eben nicht mit der bürgerlichen Entschädigungssystematik zufrieden zu stellen sind. Alternativ skizzierte er eine an den Bedürfnissen der Opfer ausgerichtete Wiedergutmachungspraxis.
Es gab auch Kritik an Brunners Thesen. KWI-Präsident und Geschichtsdidaktiker Jörn Rüsen stellte die Praktikabilität des Widerstreits in Frage: „Wie soll man denn solch eine juristische Lösung finden?“ – Rüsen glaubt, das auch in der Sprache der Täter eine Wahrheitsfindung möglich ist. Svenja Goltermann aus dem deutschen Forscherteam merkte an, dass es auch in der deutsch-jüdischen Presse in den 1950er und 1960er Jahren keinerlei Zweifel an der bestehenden Methodik der Wiedergutmachung gegeben habe: „Es wurde dort sogar aufgrund der Vielzahl der zu Entschädigenden und der beschränkten Leistungsfähigkeit Westdeutschlands eher zur Mäßigung aufgerufen.“
Ob die Ergebnisse der jetzt begonnenen Forschungsarbeit praktische Konsequenzen haben werden, ist indes zweifelhaft: „In Israel ist die Wiedergutmachungsthematik überhaupt kein Thema, es gibt dort schließlich ganz andere Probleme“, so José Brunner zur taz.