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Archiv-Artikel

Der stille Beobachter

Die kleinen Störungen an gesellschaftlichen Nahtstellen, eine elegische Subjektivität, die sich nur dort zu erkennen gibt, wo es unlauter wäre, zu schweigen, und die Sahara als das Gelobte Land: Das Kino Arsenal zeigt Filme des französischen Fotografen und Regisseurs Raymond Depardon

VON BERT REBHANDL

Der Mann ist nach der Arbeit noch zu einem Bekannten gegangen. Dort hat er ein, zwei Caipirinhas getrunken. Es hat sich so ergeben, man will ja nicht unhöflich sein. Danach musste er mit dem Auto nach Hause, nur eine Abfahrt weiter auf der Stadtautobahn, aber es hat gereicht, dass ihn die Polizei erwischt hat. Und jetzt steht er vor der Richterin, in einem der kleinen Verfahren, die am Bezirksgericht des zehnten Arrondissements verhandelt werden. Und er steht vor der Kamera: „10ème Chambre, Instants d’audience“ heißt der Dokumentarfilm von Raymond Depardon, der in dieser Außenstelle der staatlichen Gewalt spielt. Die Fälle werden tatsächlich gespielt. Gerichtsverhandlungen dürfen nicht gefilmt werden, deswegen hat Depardon eine Form der Darstellung gesucht, die möglichst nahe an der Faktizität ist: Die Richterin, die Staatsanwälte, die Verteidiger und die Delinquenten spielen sich selbst. Sie stellen die Szene vor Gericht für die Kamera noch einmal nach.

Depardon hat sich eine gesellschaftliche Nahtstelle ausgesucht – einen Ort, an dem Frankreich sein republikanisches Selbstverständnis mit kleinen Störungen vermittelt. Die Dramaturgie des Films, die Abfolge der Fälle, ist dabei von entscheidender Bedeutung. Sie kommentieren einander im Sinne einer Mikropolitik: Unter den Taschendieben und Drogenhändlern sind viele Ausländer. Ein junger Mann, der angeklagt ist, seine Ehefrau sieben Jahre misshandelt zu haben, ist maghrebinischer Herkunft. Aber auch ein (mutmaßlicher) Anhänger der Rechten steht vor Gericht, wegen illegalen Waffenbesitzes.

Raymond Depardon ist Fotograf und Filmemacher. Seine Beobachtungen am 10. Bezirksgericht stehen in einer Reihe von Arbeiten, in denen er als „unsichtbarer Beobachter“ die Institutionen gefilmt hat, die täglich mit den Krisenfällen zu tun haben. In „Faits Divers“ („Vermischte Nachrichten“, 1983) war es ein Polizeirevier im 5. Arrondissement, in „Urgences“ („Notaufnahme“, 1987) war es eine psychiatrische Abteilung eines städtischen Krankenhauses in Paris, in „Délits flagrants“ („Auf frischer Tat“, 1994) ging es um die Erstverhöre nach kleinen Delikten.

In den Sechzigerjahren arbeitete Depardon als Fotograf für die Agentur Magnum. Das Jahr 1968 hat er an allen entscheidenden Orten miterlebt. 1974 bekam er die Gelegenheit, den Wahlkampf von Valéry Giscard d’Estaing um die französische Präsidentschaft zu filmen. Er sah einen herablassenden Elitisten, der aber sehr volksnah sein konnte, wenn es nötig war: „1974, une partie de campagne“ wurde erst 2002 zum ersten Mal im Fernsehen gezeigt.

Einer seiner besten Filme, „Reporters“ (1981), beschäftigt sich mit den Prominentenfotografen, die hinter Richard Gere durch Paris hetzen. Der amerikanische Schauspieler hatte damals gerade „American Gigolo“ gedreht, war noch nicht abgehobener Buddhist, sondern Popstar. Als Depardon 1983 eine kleine biografische Notiz drehte, entstand diese nicht zufällig in Zusammenarbeit mit Jean Rouch.

Mit dem großen Anthropologen des Kinos verband ihn eine lebenslange Zuneigung zu Afrika. 1996 brachte Depardon von seinen Reisen den epischen Film „Afriques: Comment ça va avec la douleur?“ mit. Afrika erscheint hier im Titel programmatisch im Plural. Von Südafrika über Ruanda und Äthiopien führte Depardon der Weg damals nach Alexandria, von wo er nach Südfrankreich übersetzte. Die Reise, während deren er Aufnahmen drehte, die jeweils aus einem Kameraschwenk um 360 Grad bestanden, endete auf dem Bauernhof, auf dem Depardon aufwuchs. „Afriques“ ist ein postkolonialer Film, weil der Filmemacher sich seiner Differenz bewusst ist und sie in einem selbstreflexiven Kommentar verarbeitet. Die Sahara speziell ist so etwas wie das Gelobte Land von Depardon geworden. Hier hat er auch den Übergang in die Fiktionalität gewagt, in dem Spielfilm „Empty Quarter – une femme en Afrique“ (1985), in dem sehr konzeptuell das Bild einer Frau und die Stimme eines Mannes aufeinander trafen. Mit Sandrine Bonnaire in der Hauptrolle entstand fünf Jahre später „La captive du désert“, ein Entführungsfilm am Rande der Abstraktion.

Zwischen der Wüste und dem 10. Arrondissement in Paris liegen Welten, die wenige Filmemacher vermitteln könnten: Depardon gelingt es in Form einer elegischen Subjektivität, die sich nur dort zu erkennen gibt, wo es unlauter wäre, zu schweigen.

Eröffnung der Reihe mit „10ème Chambre, Instants d’audience“ heute, 21 Uhr, in Anwesenheit von Raymond Depardon, Arsenal, Potsdamer Straße 2. Weitere Termine siehe Programm