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Archiv-Artikel

„Dayton schuf ein grauenhaftes vielarmiges Monstrum“, sagt Herr Karahasan

Die Besatzungstruppen im internationalen Protektorat Bosnien haben keinen Kontakt mit der Bevölkerung

taz: Herr Karahasan, es sieht so aus, als ob Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich seines Besuchs auf dem Balkan einen Bogen um Bosnien-Herzegowina macht. Bekümmert Sie das oder ist es Ihnen egal?

Dzévad Karahasan: Meine Gefühle sind zwiespältig. Einerseits hat Deutschland während des Krieges hunderttausende bosnischer Flüchtlinge aufgenommen. Es könnte auch heute eine ausschlaggebende Rolle beim Wiederaufbau des Landes spielen. Andererseits: Mit welchem unserer Politiker wäre ein Gespräch in Sarajevo sinnvoll? Am ehesten böte sich der Trainer der bosnisch-herzegowinischen Fußballnationalmannschaft Blaz Sliskovic an. Aber ein solches Gespräch ist unmöglich – schon aus protokollarischen Gründen.

Wir sprechen in der Bundesrepublik vom Protektorat über Bosnien, vom Wiederaufbau, Sie von Besatzung und Zerstörung. Warum?

Das Grundproblem besteht darin, dass es in der gegenwärtigen Protektorats-Konstruktion keine Verbindung zwischen den Gewaltausübenden und den Gewaltunterworfenen gibt. Den Besatzern stehen nahezu unbegrenzte Machtmittel zur Verfügung. Der gegenwärtige Lord-Protektor könnte meine Ehe scheiden oder meine Studenten verpflichten, mir singend zu antworten. Ich weiß, er wird es nicht tun, aber er könnte es. Dieser Machtvollkommenheit stehen null Möglichkeiten der Bevölkerung gegenüber, mitzuentscheiden und zu kontrollieren. Die Besatzungsmacht spricht – keine Antwort seitens der Besetzten.

Sie sprachen von der Zerstörung des öffentlichen Raums im ehemaligen Jugoslawien, von den führenden politischen Parteien als ethnisch-pseudoreligiös geprägten Unternehmungen. Gibt es denn keine politischen Parteien in Bosnien, die auf demokratische Weise in den politischen Prozess eingreifen könnten?

Vorherrschend sind die Parteien, deren Führer sich als Väter der jeweiligen Nation definieren, die Nation also als Familienunternehmen begreifen. Tito hat sich demgegenüber mit einer Rolle als Sohn der jugoslawischen Völker begnügt. Die heutigen Politiker legitimieren ihr Tun als gottgewollt, was mit einer Legitimation durch Wahlen unvereinbar ist. Das führt zu einer ständigen Selbstparodierung der Politik.

Demgegenüber gibt es allerdings demokratische laizistische Parteien, die ohne Väter der Nation auskommen. Wie zum Beispiel die Sozialdemokratische Partei SDP in Sarajevo oder die Liberale Partei in Banja Luka. Aber sie bleiben aus dem politischen Raum ausgeschlossen, verfügen über keine Mittel, sich Gehör zu verschaffen.

Inwieweit hängt dieser Zustand mit dem Protektorat zusammen?

Hier sehe ich eine schwere Verantwortung der westlichen Mächte. Sie haben in Bosnien gegen ihr eigenes Grundprinzip verstoßen, die Nation als eine Vereinigung von Staatsbürgern anzusehen. Sie waren mitbeteiligt an der Zwangszuweisung der Bürger gemäß ethnischen und religiösen Kategorien. Also als Kroaten, Serben und Bosnier, als Katholiken, Orthodoxe oder Muslime. Herausgekommen ist im Gefolge des Dayton-Abkommens ein grauenhaftes vielarmiges Monstrum ohne Sitzfläche.

Welche Rechte und Verpflichtungen haben die diversen Regierungen, Verwaltungen und Parlamente in den Teilrepubliken und Kantonen? Wie können die Menschen als selbstbewusste Staatsbürger jenseits dieser Zwangsethnisierung ihre Rechte wahrnehmen?

Wäre es also besser, das Unternehmen Protektorat abzubrechen?

Keinesfalls. Das würde zu einer womöglich noch größeren Katastrophe führen als der des jetzigen Besatzungsregimes. Man muss das Monstrum beseitigen, muss zu einer klaren Abgrenzung der Kompetenzen wie der Verantwortlichkeiten finden.

Welche Hoffnungen haben die jungen Leute, etwa Ihre Studenten in Sarajevo?

Ich habe stets meine Studenten dazu aufgefordert, mir zu widersprechen, einen Dialog zu führen. Heute sind solche Streitgespräche selten geworden. Verzweifelt bemühe ich mich, meinen Studenten zu zeigen, dass es sinnvoll ist, nach dem Examen im Land zu bleiben. Aber die meisten wollen emigrieren.

Kann man von der Kräftigung zivilgesellschaftlicher Strukturen sprechen? Gibt es Kristallisationskerne, zum Beispiel um die Zeitung „Oslobodjenje“ (Befreiung) aus Sarajevo, die schon während des Krieges ihre Unabhängigkeit bewiesen hat?

Es gibt, vor allem in Sarajevo, eine Vielzahl unabhängiger, demokratisch gesinnter Initiativen und Vereinigungen im künstlerischen, wissenschaftlichen und auch politischen Bereich. Wenn das nicht der Fall wäre, könnte ich dort nicht existieren. Aber auf ihnen lastet ein schwer erträglicher politischer Druck.

Als beispielsweise Oslobodjenje kürzlich über willkürliche Verhaftungsaktionen in Prijedor (in der serbischen Teilrepublik) berichtete, reiste der dortige Polizeichef Roberts nach Sarajevo, um die Redakteure über die richtige Form der Berichterstattung zu belehren.

Sind Sie also der Meinung, die Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas würde in den verschiedenen Landesteilen sich aus Apathie und falschen Loyalitäten befreien, wenn man ihr eine demokratische Chance gäbe?

Unbedingt.

INTERVIEW: CHRISTIAN SEMLER