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Archiv-Artikel

Asylrecht in Libyen? Fehlanzeige

Al-Gaddafi soll den Flüchtlingsstrom nach Europa stoppen. Dass er die eigene Opposition unterdrückt, interessiert nicht

Tony Blair, José María Aznar, Silvio Berlusconi und jetzt der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder – die europäischen Regierungschefs geben sich in Tripolis die Klinke in die Hand. Seit der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi die zivilrechtliche Verantwortung für die Anschläge von Lockerbie und auf die Berliner Diskothek La Belle übernommen hat und auf die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen verzichtet, ist der ehemalige Schurke zum begehrten Staatsmann geworden.

Interessante Verträge locken in dem nordafrikanischen Land, das seine Staatswirtschaft, darunter reichhaltige Erdölvorkommen, für ausländische Investoren öffnen will. Und seit die EU-Innenminister von Auffanglagern für afrikanische Immigranten auf der Südseite des Mittelmeers träumen, ist al-Gaddafi ein wichtiger Stein im Abschottungsszenario der „Festung Europa“. Schließlich reisen viele Schwarzafrikaner durch die Wüste, um von der Küste aus nach Italien überzusetzen. Sie sollen künftig – geht es nach dem Erfinder der Auffanglager Otto Schily – erst mal in Ländern wie Libyen einen Asylantrag stellen.

Das Ganze hat einen entscheidenden Haken. In Libyen gibt es weder ein Asylrecht, noch wird die Würde des Menschen gewährleistet. „Die EU muss verstärkt auf die Einhaltung der Menschenrechte bestehen“, gibt deshalb die Menschenrechtsorganisation amnesty international (ai) den reisenden europäischen Staatsmännern immer wieder mit auf den Weg. Vergebens. Das Thema wird, wenn überhaupt, unter „ferner liefen“ behandelt. Dabei sind die Fakten, die aus dem hermetisch abgeschirmten Land durchsickern, mehr als erschreckend.

„Hunderte von Familien wissen nicht, ob ihre Angehörigen tot oder lebendig sind“, heißt es im letzten Libyen-Bericht von ai. Al-Gaddafi, der seit 1969 das Land regiert, duldet keine abweichenden Meinungen. Unter den Verschwundenen befinden sich ausländische Besucher wie der iranische Geistliche Imam Musa al-Sadr, dessen Spur sich vor 25 Jahren in Libyen verlor.

Immer wieder wird auch für gewaltfreie Opponenten lebenslange Haftstrafe oder gar die Todesstrafe ausgesprochen. Der letzte Massenprozess vor dem berüchtigten Volksgerichtshof, von dem den Menschenrechtsorganisationen Informationen vorliegen, fand Mitte 2002 statt. 151 Akademiker und Studenten standen damals vor Gericht. Sie sollen einer verbotenen islamistischen Gruppe angehören. In erster Instanz wurden zwei Todesurteile und zahlreiche Haftstrafen zwischen zehn Jahren und „lebenslänglich“ ausgesprochen.

Offizielle Stellen bestreiten freilich die Existenz von politischen Gefangenen. Es gebe nur „Kriminelle“ und „Ketzer“ in den Gefängnissen des Landes.

Um die Angeklagten zum Sprechen zu bringen, wird auch immer wieder gefoltert. Einer ai-Delegation, die im Frühjahr als Folge der Annäherung an den Westen erstmals die libyschen Haftanstalten besuchen konnte, liegen entsprechende Aussagen von fünf bulgarischen und einem palästinensischen Arzt vor. Sie wurden mit Elektroschock, Schlägen und eigens abgerichteten Hunden dazu gezwungen, sich selbst zu beschuldigen. Das libysche Regime macht sie für die Aidsinfizierung von 426 Kindern verantwortlich. In erster Instanz wurden sie im Mai zum Tode verurteilt.

Was illegalen Einwanderern auf dem Weg nach Europa passieren kann, zeigt das Schicksal von 200 Eritreern, die diesen Sommer von Libyen in ihre Heimat abgeschoben wurden. Viele von ihnen weigerten sich in ihrer Heimat, den Militärdienst anzutreten, und wollten deshalb als verfolgte Deserteure in Europa Asyl beantragen. Jetzt sitzen die meisten von ihnen in eritreischen Gefangenenlagern. Amnesty schätzt die Zahl der Eritreer, die in Libyen auf ihre Abschiebung warten, auf mindestens weitere 200. Libyen, das von den EU-Innenministern als Standort für Auffanglager vorgesehen ist, hat noch nicht einmal die UN-Flüchtlingskonvention von 1951 unterzeichnet.

REINER WANDLER