: „Ich will meinen Job zurück“
aus Schwedt KIRSTEN KÜPPERS
So wird es kommen: Marion Preetz geht wieder zur Arbeit. Nach über einem Jahr. Morgens um 8.30 Uhr wird sie ihren silberfarbenen Kleinwagen auf dem Parkplatz des Oder-Centers abstellen, des Einkaufszentrums von Schwedt. Beim Aufschieben der Glastür wird Marion Preetz der vertraute Fettgeruch der Burger-King-Filiale empfangen, sie wird die Auslagen des Drogeriemarkts passieren, den beleuchteten Gang entlanglaufen, an den Schaufenstern des Billigschuhladens vorbei. Und dann wird die 28-Jährige endlich wieder ihren Arbeitsplatz betreten. Marion Preetz geht einfach hinein in die Schwedter Niederlassung einer großen deutschen Bekleidungskette, in einen Laden für legere Damen- und Herrenmode im bedeutendsten Einkaufszentrum der Stadt.
Mit weiten Schritten wird sie den Raum durchqueren, vorbei an den Ständern mit den Winterjacken, vorbei an den Regalen mit den Jeanshosen, aus dem Lautsprecher kommt wahrscheinlich ein Lied von Nena. Marion Preetz wird sich vor die Kasse stellen und zu der blonden Kassiererin sagen: „Hallo, hier bin ich. Eure Filialleiterin. Ihr kennt mich ja noch.“
Natürlich werden die Kolleginnen da erst mal gucken. Über ein Jahr ist Marion Preetz nicht mehr da gewesen. Sie war ja gekündigt. Und jetzt steht sie plötzlich wieder da und sagt, sie ist Chefin.
Und selbstverständlich wird das mühsam zusammengeklaubte Selbstbewusstsein der zierlichen Frau, der ganze schöne Mut, den es braucht, hier wieder aufzutauchen nach allem, was gewesen ist, dann doch sehr schnell wieder in sich zusammenfallen, wenn die Kolleginnen nur lange genug betreten gucken. Aber Marion Preetz hat sich einen Satz zurechtgelegt für diesen Fall. „Ihr habt mir nichts vorzuwerfen, und ich habe euch nichts vorzuwerfen.“ Das will sie den Kolleginnen sagen. Ein tapferer kleiner Satz, der alles ganz einfach macht. Eine Formel, die alles draußen lässt vom vergangenen Jahr: die Anwälte, die bösen Briefe, den Streit und die Angst. Ein Satz, der wieder ein Anfang sein könnte.
Am 19. September 2002 ist es passiert, dass Marion Preetz aus ihrem gewohnten Alltag im Einkaufszentrum von Schwedt geworfen wurde. An jenem Mittwoch ist sie in den unsicheren Zustand gefallen, der noch bis heute anhält, obwohl eigentlich alles vorbei ist. Der immer noch dafür sorgt, dass sie den Namen ihres Arbeitgebers nicht in der Zeitung lesen will. So loyal muss sie sein, glaubt sie. Marion Preetz heißt in Wirklichkeit auch nicht Marion Preetz. Ihr richtiger Name soll nicht bekannt werden. Damit sie nicht noch mehr Ärger bekommt mit der Firma, sagt sie. Dabei hat Marion Preetz den Ärger längst.
Am Mittwoch, dem 19. September 2002, hatte sie sich wie jeden Tag durch die Glastür des Einkaufszentrums zur Arbeit geschoben. Eine halbe Stunde später fand sie sich auf dem Parkplatz wieder. „Von heut auf morgen meiner Existenz beraubt“, meint sie. In ihrer Filiale stand eine fremde Frau. Die Geschäftsleitung in Westdeutschland hatte sie geschickt. Die Frau hatte Marion Preetz erklärt, dass sie fristlos gekündigt sei.
Damit fing die Unsicherheit an. Mit der Kündigung hatte Marion Preetz nie gerechnet. Sicher, sie hatte einen Fehler gemacht, vor drei Monaten, im Juni. Sie hätte deswegen gekündigt werden können, aber nach einem Gespräch mit ihrem Vorgesetzten hatte sie nur eine Abmahnung bekommen. „Damit ist der Fall erledigt“, hatte sie damals gedacht.
Aber dann war die fremde Frau aus Westdeutschland aufgetaucht und hatte sie rausgeworfen aus ihrem sicheren Dasein. In einer grauen Benommenheit stieg Marion Preetz dann in ihr Auto. Sie fuhr durch die Straßen von Schwedt, an den vielen leeren Plattenbauten vorbei, durch die Ansammlung heruntergekommener unbewohnter Häuser. Und sie dachte an ihr eigenes neues Haus. Das Eigenheim, das sie und ihr Mann in einem Anflug von Kühnheit gebaut hatten, als sie den Job als Filialleiterin bekam. Und an die Schulden. Die Angst stieg in ihr hoch. Zu Hause angekommen, hat sich aufs Sofa gesetzt und geweint. Ihr Mann hat gesagt: „Marion, du musst dich wehren!“ Ihr Mann kennt sich aus in der Welt. Er ist Fernfahrer von Beruf.
Marion Preetz hat sich also berappelt. Sie hat sich an ihrem Computer im Internet einen Spezialisten gesucht, einen Fachanwalt für Arbeitsrecht. Einen dieser jungen, aufstrebenden Juristen, die in diesen Zeiten sehr beschäftigt sind. Weil die Unternehmen im Land immer mehr Menschen entlassen. Weil die Menschen sich ihre Jobs nicht einfach so wegnehmen lassen wollen. Weil die Leute vor die Gerichte ziehen, aus Angst vor der Zukunft. Marion Preetz ist mit der Angst im Kopf und ihrem Mann auf dem Beifahrersitz die rund 100 Kilometer nach Berlin gefahren. Marion Preetz musste dem Anwalt nicht viel erklären. Er hat sofort eine Kündigungsschutzklage eingereicht.
Seither gab es viele Schreiben zwischen Preetz‘ Rechtsanwalt und dem Anwaltsbüro der Bekleidungsfirma. Viermal haben sie sich im Arbeitsgericht Eberswalde getroffen. Marion Preetz hat Recht bekommen. Das erste Mal am 16. Januar dieses Jahres. Die Richter entschieden, dass die Firma sie nicht kündigen durfte, weil sie für ihren Fehler längst abgemahnt worden war.
Und dennoch stand Marion Preetz an diesem blassen Januartag nach der Verhandlung verloren und traurig auf dem kalten Flur des Gerichtsgebäudes herum. Das hatte wieder mit diesem seltsamen Zwischenzustand zu tun. Ein Zustand, in dem die Gerechtigkeit immer ein bisschen zu spät zu kommen scheint. Zwar hatten die Richter die Kündigung für unwirksam erklärt. Aber den Job hatte Marion Preetz jetzt trotzdem nicht zurück. Die Bekleidungsfirma hatte sie bereits ein zweites Mal rausgeschmissen. Vor zwei Monaten war ein Bote mit einem Brief gekommen und hatte ihr die fristgerechte Kündigung zum 31. Dezember 2002 überreicht.
Auch gegen diese Kündigung hat ihr Anwalt sofort geklagt. Wieder musste Marion Preetz auf einen Gerichtstermin warten. Lange Wochen, in denen sich bei ihr die Sicht auf die Dinge verändert hat. Anfangs hätte sie sich noch mit Geld zufrieden gegeben. Aber die Firma hat ihr keine Abfindung angeboten. Und als sie ihr später doch eine vorschlug, fand ihr Anwalt die Summe zu niedrig. Über das Warten ist die Angelegenheit größer geworden für Marion Preetz. Zuerst war die Klage nur ein Streit mit der Aussicht auf eine Entschädigung. Inzwischen ist sie ein Kampf um eine Zukunft in Schwedt geworden.
Marion Preetz sitzt in einem Café in der Innenstadt, als sie das erzählt, es ist die Zeit des Tages, in der nur Arbeitslose und Mütter mit Kleinkindern im Café sind. Sie hält sich an einer Zigarette fest. Neben dem Tisch stehen zwei Palmen in Kübeln. Über den Palmen soll man den Regen vor den Fenstern vergessen. Aber in der langen Monaten des Wartens hat Marion Preetz Gelegenheit gehabt, sich umzuschauen in der Stadt. Sie hat nach einer neuen Arbeit gesucht. Sie hat über 20 Bewerbungen geschrieben, sie ist in die Geschäfte gelaufen und hat nach Arbeit gefragt, auch im Heimwerkermarkt und im Blumenladen. Aber in Schwedt gibt es eine Arbeitslosenquote von 21,9 Prozent. Alle ziehen weg von hier. In den letzten zehn Jahren hat die Stadt in der brandenburgischen Uckermark ein Viertel ihrer Bevölkerung verloren. Die Plattenbauten stehen leer. Die Stadt ist wie ein zu großer, hässlicher Handschuh für die Menschen. Sie passt nicht mehr. Daher wird sie jetzt kleiner gemacht. Die Plattenbauten werden abgerissen. Edeka und Spar schließen zum Ende des Jahres. Der Praktiker-Baumarkt hat schon zugemacht. Neue Geschäfte werden hier keine eröffnet, sagt Marion Preetz.
Sie will trotzdem nicht weg. Das ist die Gewissheit, die sie sich aufgehoben hat beim Warten. Sie ist hier aufgewachsen. Sie hat ein Haus gebaut, neben dem Haus ihrer Eltern. „Ich will hier bleiben“, sagt Preetz. Vor kurzem hat sie sich einen Hund gekauft. Der Hund ist so was wie ein Bekenntnis zu Schwedt. Seit Anfang des Jahres arbeitet Preetz gelegentlich auch in einem Küchenstudio. Aber der Hund und das Küchenstudio sind keine Lösung. Sie will in das Einkaufszentrum zurück. „Ich finde keine bessere Arbeit“, glaubt Marion Preetz.
Und weil in dieser Antwort keine Alternativen mehr vorkommen, hat sie sich nicht beeindrucken lassen von den Briefen, die ihr die Bekleidungsfirma geschrieben hat im letzten Jahr. Die Briefe, in denen behauptet wurde, dass die Umsätze jetzt besser seien und dass die Kollegen froh seien, dass sie weg ist. Marion Preetz konnte nicht schlafen wegen der Briefe. Trotzdem hat sie gedacht: „Ich will meinen Job zurück.“
Es hat funktioniert. Am Dienstag hat das Arbeitsgericht Eberswalde noch einmal entschieden, dass die Kündigung unwirksam ist. Marion Preetz lacht jetzt. Es klingt fast mutig. Sie weiß, dass sie gewonnen hat. Die Bekleidungsfirma kann nichts tun. Der Anwalt des Unternehmens hat angekündigt, vielleicht werde man in Berufung gehen. Aber er weiß, die Chancen für die Firma stehen schlecht. Möglich, dass die Firma Marion Preetz jetzt in eine andere Filiale schickt, nach Magdeburg, Leipzig oder Schwerin. Aber sie muss sie als Filialleiterin weiterbeschäftigen. Sie muss ihr auch das Gehalt vom vergangenen Jahr überweisen. Marion Preetz lacht scheu. Sie kann ihr Haus abbezahlen. Sie wird bald wieder Jeanshosen verkaufen. Sie wird T-Shirts auf Bügel hängen und Etiketten an Waren knipsen. Es scheint, als hole die Gerechtigkeit auf.