: Zellhaufen ist Würde los
Wende in der Biopolitik. Bundesjustizministerin Zypries spricht künstlich erzeugten Embryonen Menschenwürde ab. Auch Kanzler für Änderung des Stammzellengesetzes. Kritik aus der Union
BERLIN dpa ■ Die Bundesregierung hat den Streit über die Grenzen der Forschung an embryonalen Stammzellen überraschend neu entfacht. Eineinhalb Jahre nach einer parteiübergreifenden Übereinstimmung im Bundestag rückte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) am Mittwoch von der bisherigen Position ihres Hauses ab, auch im Reagenzglas erzeugten Embryonen den vollen Schutz der Menschenwürde anzuerkennen. In einer Grundsatzrede in der Berliner Humboldt-Universität zeigte sich Zypries Wünschen aus der Wissenschaft aufgeschlossen, das Stammzellengesetz zu überprüfen, wenn dies „erforderlich“ sei. „Von Verfassung wegen ist dies jeden- falls nicht untersagt“, sagte sie. Auch Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) plädiert für eine Neubewertung der gesetzlichen Grenzen für die Embryonenforschung. Regierungssprecher Béla Anda sagte, die Diskussion müsse auch nach Ansicht des Kanzlers „weitergeführt werden“. Mit schnellen Gesetzesvorstößen ist nach Angaben einer Sprecherin von Zypries aber nicht zu rechnen.
Mit Stammzellen vom Menschen wollen Mediziner in Zukunft schwere Krankheiten heilen und die Funktion verschlissener Organe wiederherstellen. Sie werden vor allem aus Embryonen gewonnen, die bei einer künstlichen Befruchtung entstehen und nicht mehr für eine Schwangerschaft benötigt werden. In Deutschland dürfen Wissenschaftler keine Stammzellen aus menschlichen Embryonen gewinnen, wohl aber in Ausnahmefällen für „hochrangige Forschungsziele“ importieren.
Nach dem Gesetz dürfen nur vor dem 1. Januar 2002 durch künstliche Befruchtung gewonnene und in Labors in Kulturen gelagerte Stammzellen importiert werden. Damit wollte der Bundestag sicherstellen, dass keine weiteren Embryonen eigens für die Forschung in Deutschland zerstört werden.
Parteiübergreifend war die Annahme, dass ein auch im Reagenzglas erzeugter Embryo den vollen Schutz der Menschenwürde verdient. Das stellt Zypries nun in Frage. Sie will diesen Schutz, der auch die Forschung an Stammzellen verbietet, erst dann anerkennen, wenn der Embryo im Mutterleib eingesetzt ist. Solange sich der Embryo im Reagenzglas befindet, „fehlt ihm eine Voraussetzung dafür, sich zum Menschen zu entwickeln“, argumentiert sie.
Kritik gab es aus der Union. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Maria Böhmer (CDU) warnte die Bundesregierung vor einer Wende beim Schutz des ungeborenen Lebens. Dieser dürfe nicht zu Material für Forschung werden. Der stellvertretende Grünen-Fraktionschef Reinhard Loske sagte dagegen im taz-Interview: „Ich finde sehr positiv, dass Frau Zypries hier klar Stellung bezogen hat. Vor allem ist ihre Begründung sehr gesellschaftspolitisch. Sie führt das Verzweckungsverbot an und sagt, es dürften keine Embryonen zum Zwecke der Forschung hergestellt werden.“
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