Litauen vor der Wende bei Reaktorende

Die Abschaltung des AKW Ignalina ist eigentlich mit der EU vereinbart. Nun soll neu verhandelt werden. Das will der Sieger der Parlamentswahlen. Jetzt stimmt auch Ministerpräsident Brazauskas ein. Denn die Stichwahl steht bevor

STOCKHOLM taz ■ Eigentlich soll er spätestens in der Silvesternacht vom Netz gehen, der erste von zwei Reaktoren des AKW Ignalina. Das hatte die EU mit Litauen ausgehandelt als Teil des Verhandlungspakets, aufgrund dessen das Land überhaupt erst als EU-Mitglied akzeptiert worden war. Doch nur wenige Monate nach erfolgtem Beitritt will Vilnius mit Brüssel über eine Fristverlängerung für Ignalina um vorerst sechs Monate feilschen.

Als Argument herhalten muss der Erfolg populistischer Parteien bei den Parlamentswahlen am vorigen Sonntag. Der Wahlsieger Viktor Uspaskich hatte schon in der Wahlnacht klar gemacht, dass für ihn in Sachen Ignalina das letzte Wort nicht gesprochen sei. „Und solange wir nicht bereit sind den ersten Reaktor abzuschalten, brauchen wir uns über den zweiten gar nicht erst zu unterhalten.“ Für diesen hatte Litauen mit der EU die Stilllegung 2009 vereinbart.

Offenbar im Bemühen, noch einmal Stimmen für die am übernächsten Sonntag anstehenden Stichwahlen zu sammeln, versucht auch der amtierende Ministerpräsident Algirdas Brazauskas das Thema der Reaktorstilllegung wieder offen zu halten: Er werde sich im Laufe dieser Woche mit Experten beraten und danach in Brüssel vorstellig werden, erklärte er.

Die Tageszeitung Lietuvos Rytas will bereits wissen, wie diese „Beratungen“ ausgehen werden. Unter Hinweis auf eine drohende Energielücke im Winter – vor allem für den Fall, dass der zweite Ignalina-Reaktor außerplanmäßig vom Netz müsse – werde Vilnius bei der EU um Zustimmung zu einer Betriebsverlängerung nachsuchen. Verhandlungen um eine weitere Aufschiebung seien danach vorprogrammiert.

Das AKW liegt im südöstlichen Teil Litauens in einer wirtschaftlich sowieso schwer gebeutelten Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit. Eine Schließung würde auch insgesamt zu einer für Privathaushalte wie Wirtschaft nachteiligen massiven Erhöhung der Strompreise führen. Ignalina erzeugt über 80 Prozent des litauischen Stromverbrauchs.

Doch Kosten dieser Art sind eigentlich in den Ausgleichszahlungen bereits berechnet worden, die Vilnius von Brüssel für den Atomausstieg erhalten soll. 240 Millionen Euro sind insoweit laut einer Aufstellung des litauischen Wirtschaftsministeriums schon fest zugesagt. Und erst vor einigen Tagen hat die EU-Kommission eine weitere Rate von 815 Millionen Euro für die Jahre 2007 bis 2013 empfohlen.

Die beiden Ignalina-Reaktoren sind vom Tschernobyl-Typ, haben eine theoretische Leistung von jeweils 1.500 Megawatt – aus Sicherheitsgründen wird aber seit Jahren nicht mehr mit voller Leistung gefahren – und sind seit 1983 beziehungsweise 1987 in Betrieb. Vor allem der erste der Reaktoren produzierte eine rekordlange Liste von Störfällen. REINHARD WOLFF