: Der Auszug aus New Elm
aus Coalhurst JUDITH LUIG
Joel Entz hat es nicht mehr ausgehalten. Wettsaufen, Rumproleten, dreckig über Mädchen reden – das hat den Sechzehnjährigen krank gemacht. So sagt er. Eines Abends ist er einfach nicht mehr bei seinen Freunden aufgetaucht. Er ist von zu Hause abgehauen.
Bis hierhin ist die Geschichte ganz normal. Es ist schließlich fast alltäglich, dass ein Teenager den Druck seines Umfelds nicht aushält. Nicht normal ist, dass diese Clique keine Gruppe abgerockter Vorstadtkinder ist. Joels Freunde sind Hutterer: Anhänger einer protestantischen Glaubensgemeinschaft, deren strenge Regeln sich seit 475 Jahren kaum verändert haben.
Singen, Zusammensein, Handarbeiten, Leibesübungen – so beschreiben Hutterer selbst ihre Freizeitaktivitäten. Das sich hier Szenen abspielen, wie Joel sie schildert, scheint unglaublich. Nicht ganz normal ist auch, wohin Joel abgehauen ist: zu seiner Familie nämlich. Seine Eltern und seine sieben Geschwister hatten schon drei Monate vor ihm die Kolonie New Elm im Süden der kanadischen Provinz Alberta verlassen.
„Die Hutter’sche Kirche ist reif für eine neue Reformation“, erklärt Matthew Entz, 40 Jahre alt und Joels Vater. Die Regeln seiner Glaubensgemeinschaft, so erläutert er, stünden nicht mehr für den Willen Gottes. Die Entzens gehören zu einer neuen Welle von Abtrünnigen. Früher waren weltliche Freiheit, der Wunsch nach einem „eigenen Willen“, wie sich die Hutterer ausdrücken, der Drang nach Bildung oder auch ein unlösbarer Konflikt innerhalb der Kolonie Gründe dafür, dass Einzelne gingen. Doch in jüngster Zeit erleben die Hutterer eine neue Entwicklung – weg von diesseitigen hin zu jenseitigen Konflikten.
Eine Reform des Glaubens bedroht die hierarchische Struktur und damit die Kolonien selbst. „Die Freiheit, die wir suchen, ist keine weltliche Freiheit. Sie ist eine Freiheit in Gott“, sagt Matthew Entz. Sogar Gottes Wort ist in den Kolonien allein Sache der Minister.
Wie die Protestanten sich in den Tagen der Gründung der Hutterer gegen die allmächtige Kirche Roms wandten, so richtet auch Entz sich heute gegen die Predigten der Minister. Denen hält er frappierenderweise gerade den Kern protestantischer Lehre entgegen: „Nicht durch Strenge und Unterwürfigkeit gegenüber den Gesetzen der Menschen erlangen wir das Himmelreich, sondern nur durch Gottes Gnade.“
Matthew Entz, der Rebell, sitzt am Esstisch in seinem neuen Zuhause in Coalhurst, einem Schlaftstädtchen im Süden Albertas, und sieht kein bisschen aus wie ein Rebell. Die dunkle Tracht mit Baumwollhemd und Hosenträgern hat er abgelegt, doch er trägt noch immer den gestutzten Vollbart der verheirateten Hutterermänner. „Ich will zeigen, dass ich mich nicht vollständig von ihnen abgewandt habe“ – trotz deren Schmähanrufe am Telefon. Aber Entzens Haus ist nicht mehr das eines Hutterers. Seine Frau trägt ihr Haar offen, verzichtet auf das traditionelle „Kupf-ti’echele“, seine acht Kinder sind von anderen Kindern auf der Straße nicht zu unterscheiden. Wohnzimmer und Küche schmücken kleine Dinge. So etwas findet man nicht in den blitzsauberen Häusern der Hutterer, in denen Privateigentum, wie jede Form von „Aagnutz“ (Eigennutz), Sünde ist.
Neu ist auch der Familienesstisch. Sein Leben lang hatte Matthew Entz jede Mahlzeit mit den Männerleut an einem Tisch gegessen, getrennt von den Frauen, in einem anderen Raum als seine Kinder. Entz hatte diese Regeln der Kommune immer eingehalten. Er hatte sich für den Kirchbesuch einen Mittelscheitel gezogen, er hatte nie ein kurzärmeliges Hemd getragen, und er ist Klempner geworden, wie es der Farmmanager für ihn bestimmt hat. Matthew Entz wollte ein Leben in seiner Religion, sagt er. „Aber dafür wurde ich angeklagt.“ Er sucht nach dem englischen Wort. „Hochmut“, hilft ihm sein Vater Eli auf Deutsch. Die Sprachverwirrung ist auch auf anderen Brüderhöfen ein wachsendes Problem. Die Hutter’schen Brüder sprechen „Niederdeutsch“, einen Dialekt aus dem „Tirolerdeutsch“ – die Sprache ihres ersten Ministers Jacob Hutter. Doch ihre Bibel ist auf Lutherdeutsch. So wie auch die Gesangbücher, die Gebete und das „Klein Geschichtsbuch der Hutter’schen Brüder“. Die Älteren sprechen noch Hochdeutsch – wenn auch mit Anstrengung und für unsere Ohren mit einem ostpreußischen Einschlag –, die Jüngeren verlieren immer mehr den Bezug zu dieser Sprache.
Dass er von der Gemeinde des Hochmuts beschuldigt wurde, versteht Matthew Entz nicht. Er stellt sich immer mehr Fragen über die Praktiken seiner Religion. Was ist nun richtig? Sein Verständnis des Wortes oder die Auslegung der Minister? In dieser Verwirrung, so erzählt er, trifft Entz eines Tages einen Mann in der Shopping-Mall, der seine Fragen beantwortete. Steve Campbell, einer, den man auf New Elm einen „Weltprediger“ nennt. Entz lädt Campbell in die Kolonie und in sein Haus ein. Der Gast bringt seine Bibel mit. Auf Englisch. Man diskutiert. Und Matthew hat das Gefühl, dass sich ihm endlich der Sinn von Gottes Wort erschließt. „Ich bin wiedergeboren worden.“
Die Offenbarung dieser neuen Welt aber bringt ihm den Ausschluss aus seiner bisherigen. Die Ministerkonferenz der Lehrerleut tagt über den Fall. „Unsere Kolonie ist infiziert“, predigt der New- Elms-Minister am nächsten Sonntag in der Kirche, und die Gemeinde beginnt Matthew aus dem Weg zu gehen. Dann wird er immer stärker sanktioniert. Zuerst darf er nicht mehr Auto fahren, irgendwann nicht mehr telefonieren, dann nicht mehr arbeiten. Campbell wird mit Androhungen von Gewalt von der Kolonie fern gehalten. Fast anderthalb Jahre hält Matthew Entz durch, bis er aufgibt.
Er tut etwas in der fast fünfhundert Jahre alten Geschichte der Hutter’schen Brüder Beispielloses. Am 23. Oktober 2001 verlässt der Reformer seine Heimat New Elm und nimmt zirka 34 Familienmitglieder mit sich. Das älteste von ihnen, seine Tante Elisabeth, ist 74 Jahre alt und gar nicht ängstlich vor der unbekannten Zukunft. „Das war doch eine Diktatur“, sagt sie heute am Esstisch und rückt resolut ihr fein gepunktetes Kupf-ti’echele zurecht.
Andere nehmen sich an Entz ein Beispiel. Noch am selben Tag fahren in der Schwesterkolonie Ponderosa die Möbelwagen vor und weitere 32 Personen verlassen ihren Hof. Übersetzt bedeutet das mehr als ein Viertel der gesamten Bevölkerung einer durchschnittlichen Kolonie. Leben dort mehr als zwischen 120 und 160 Menschen, werden die Siedlungen geteilt.
„Der größte Exodus, den es jemals gab“, erklärt Andrew Gross, Minister der nahen Rock Lake Colony, fassungslos gegenüber der Lokalzeitung Lethbridge Herald. Sogar die überregionalen Blätter berichten über den Vorfall. Doch im Großen und Ganzen hält sich die Presse zurück mit der Beurteilung der inneren Konflikte einer Welt, die dem modernen Menschen letztendlich verschlossen bleibt. „Ein Familienstreit“, berichtet Globe and Mail. Schließlich werden die Hutterer in den benachbarten Farmergemeinden und Städten sehr geschätzt. Als harte Arbeiter und gute Geschäftspartner. „Hutterer sind große Geschichtenerzähler, und sie lieben es, kleine Scherze und Spielchen bei den Verkaufsverhandlungen zu machen“, erzählt John James, der mit Traktoren handelt und Hutterer zu seinen wichtigsten Kunden zählt.
Die Sorge innerhalb der Kolonien indessen geht über das Wohlergehen der Abtrünnigen hinaus. Da auf den Brüderhöfen die Gütergemeinschaft gilt, verlangen viele Ex-Hutterer ihren Anteil. Die Ponderosa hat die Großfamilie der Waldners nach ihrem Weggang nachträglich ausgestoßen. Jetzt klagen die Ausgeschlossenen ihr Miteigentum ein – in Höhe von 500.000 kanadischen Dollar pro Kopf. Ein Gerichtsurteil zugunsten der Waldners könnte die Kolonie in ihrer Existenz bedrohen.
Bei den Entzens besteht diese Gefahr nicht. Die „New Testament Church“, der Steve Campbell angehört, hat alle entstandenen Kosten für die Großfamilie übernommen. Ein von Christen, wie Entz sagt, übers Internet eingerichteter Fonds, der „Barnabas Fund“, finanziere ihn bis heute, da er als Prediger im „Good News Center“ in Lethbridge, das vorwiegend von ehemaligen Hutterern besucht wird, kein Einkommen hat.
In den Kolonien hat der Exodus unterdessen Konsequenzen: Auch Matthews Vater Eli, als Hüter der Finanzen lange eine Respektsperson, wurde nach Matthews Auszug aus New Elm beargwöhnt. Es dauerte nur länger, bis auch er Sanktionen zu spüren bekam. Erst wurde ihm das Amt entzogen. Dann eines Abends, als er mit seinen Enkelkindern die frisch geborenen Kälber im Stall anschauen wollte, fand er die Tür verriegelt vor. Jetzt fehlte nur noch die Exkommunikation. „Da wusste ich, dass es Zeit war zu gehen.“
Die Geschichte dieser beiden Kolonien in Alberta ist ein Extremfall, ein Einzelfall jedoch nicht. Ähnliche Konstellationen haben sich mit anderen Freikirchen wie der „Charity Church“ oder der „Baptist Church“ abgespielt. Wie es weitergehen wird, ist noch unklar.
Nach einer Rückkehr sieht es nicht aus. Joel holt jetzt seinen Highschool-Abschluss nach, und in seiner Freizeit leitet er Jugendgruppen, so etwas wäre auf New Elm undenkbar. Manchmal trifft er alte Freunde und Nachbarn in der Mall oder im Supermarkt. „Aber die schauen weg, wenn sie mich sehen.“ Zurück nach New Elm will er auf keinen Fall. „Ich musste da einfach weg, ich wollte ja nicht in der Hölle brennen.“