: In der Fest Collection
Bürgerliche Seelenschau: Joachim Fest, bislang bedeutendster Feuilleton-Herausgeber der FAZ, schreibt biografische Skizzen
VON ALEXANDER CAMMANN
Die Hamburger Party im Sommer 1964 war schon recht ausgelassen, als die sinnlich-kluge Ulrike Meinhof die Männer reihenweise auf die Tanzfläche zog. „Sie entgehen mir nicht!“, warnte die konkret-Kolumnistin lachend auch den Familienvater Joachim Fest, damals Chefredakteur des NDR – ein Satz, der durch das Wissen um ihren künftigen Weg im Nachhinein einen düsteren Klang erhält. Ob jedoch die spätere Terroristin an jenem Abend Fest bekommen hat, bleibt offen: „Später wollte sie aber doch Einzelheiten über den 20. Juli 1944 erfahren“, heißt es diskret in der Rückschau des nachmaligen Herausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Vierzig Jahre nach seinem Buch „Das Gesicht des Dritten Reichs“, in dem er das Führungspersonal des NS-Staates porträtierte, hat Joachim Fest erneut eine Epoche in biografischen Skizzen eingefangen. Seine Erinnerungen an „nahe und ferne Freunde“ sind zugleich eine bundesrepublikanische Gemäldegalerie, an deren Wänden sich 14 meisterliche, mit sezierender Genauigkeit geschaffene Porträts bewundern lassen: Neben Ulrike Meinhof schauen unter anderem Sebastian Haffner, Johannes Groß, Dolf Sternberger, Wolf Jobst Siedler, Arnulf Baring, Hannah Arendt, Golo Mann, Horst Janssen, Joachim Kaiser und Rudolf Augstein auf den Betrachter herab. In allen Bildern verstecken sich Facetten, aus denen man den intellektuellen Werdegang des 1926 in Berlin geborenen Sohns eines später von den Nazis entlassenen Schulrats zusammensetzen kann: „Striche zu einem Selbstporträt“ (Fest) – ein Schattenriss, der selbst gedeutet werden will.
In doppeltem Wortsinne das Herzstück dieses Bandes ist zweifellos die Meinhof-Miniatur. Unter der Überschrift „Die Verzweiflung des Gedankens“ findet man, auf wenigen Seiten verdichtet, den zentralen Konflikt, den die wenig dramatische Bundesrepublik zu bieten hatte. Mit wachsender Spannung verfolgt man eine eigentümliche Romanze zwischen Bürger und Rebellin, die der Autor mit Sinn für die Fantasien des Zuschauers inszeniert. „Wirklich nahe sind wir uns nicht gekommen“, schreibt Fest zwar gleich am Anfang – doch in einem Dutzend Begegnungen scheinen die Anziehungskräfte, die Gegensätzen meist innewohnen, durchaus vorhanden gewesen zu sein. Man traf sich bei Empfängen und Geselligkeiten und ließ im Zwiegespräch die ideologischen Gegensätze aufeinander prallen: Meinhof immer die herrschende Gesellschaft verachtend und die Revolution prophezeiend, Fest die bürgerliche Welt verteidigend. „Im ganzen genossen wir unsere Meinungsverschiedenheiten“, es war „niemals ein Ton von Feindseligkeit“ zu vernehmen, so der Autor in der Rückschau. Wie sie nur in die Gesellschaft von geistlosen Extremisten geraten konnte, fragte Fest sie einmal nach einem windumtosten Spaziergang am Strandweg in Blankenese beim wärmenden Kaffee im Restaurant. Im Spätherbst 1967 dann eine zufällige Begegnung in Berlin-Dahlem: Man benötige Waffen, da die Schreibmaschine nichts mehr nütze, so Meinhof. Beim Auseinandergehen versicherte Fest, er werde von ihren Worten „keinen unangemessenen Gebrauch“ machen; das „Empfinden eines Abschieds für immer“ überkam ihn gleichwohl.
Es sind – mit Ausnahme Arendts und Augsteins – keine Gestalten der allerersten Reihe, die Joachim Fest skizziert. Seine Vignetten gelten den markanten Gesichtern statt den Denkmalsanwärtern, den ewig Unfertigen eher als den gesittet Vollendeten. Er offenbart, nicht nur bei Meinhof, einen Sinn für Radikalität und Exzentrik im Seelenhaushalt seiner Weggefährten. Das ließe sich als Neugier auf die eigenen unausgelebten Seiten deuten. Zumindest scheint Fest das anregende Potenzial Konventionen sprengender Figuren jedweder Couleur zu schätzen, getreu dem Diktum Paul Valérys, wonach die Welt „nur durch die Ultras Wert und Bestand nur durch die Gemäßigten“ besitzt. Ausführlich beschreibt Fest die genialisch-irrlichternden Absurditäten und extremen politischen Meinungsausschläge eines Sebastian Haffner. Wohlwollend schaut er auf die permanenten Aufgeregtheiten der fidelen Kassandra Arnulf Baring, macht sich Gedanken über eine erratische, jenseits aller Normen angesiedelte Rätselgestalt wie Rudolf Augstein. Mit Hugh Trevor-Roper, dem britischen Geheimdienstler, Oxford-Historiker und Hitler-Experten, unterhielt er sich in verrauchten Berliner Halbweltkneipen nächtens über Edward Gibbon und Ferdinand Gregorovius. Das „zutiefst Unspießige von Fests Wesen und Art“ (Jan Roß) zeigt sich in diesem ungewöhnlichen Figurenreigen – wobei sich der Autor mit nicht uneitlem Understatement mit diesen kreativen Unruhestiftern schmückt.
Seine umfassende, gleichwohl seltsam kühle Würdigung Wolf Jobst Siedlers befremdet dagegen. Der konservative Feuilletonist und Verleger, mit dem er einst ausgedehnte Urlaubsreisen durch Italien unternommen hat, erhält gleichsam einen klugen Nachruf zu Lebzeiten: Es ist der einzige Text über einen Lebenden, den Fest in der Vergangenheitsform schreibt. Entfremdungsprozesse, deren Ursachen weitgehend im Dunkeln bleiben, kann und will Fest nicht hinter Noblesse verbergen. Auch das Porträt Hannah Arendts, der er einige Male begegnete, irritiert: Mit voyeuristischer Lust möchte Fest vor allem der Liebesbeziehung zwischen der Philosophin und Martin Heidegger auf die Spur kommen. Seitenlang erfährt man auf unfeine Weise, was Arendts vertratschte Freundin Mary McCarthy ihm so alles über die beiden erzählte, von Fest offenbar mit Akribie notiert.
Lässt sich in diesem Buch der innere Kompass eines Lebenswegs entdecken? Fests Interesse gilt der Seelenschau, nicht den Gedankengebäuden. Darin offenbart sich übrigens auch ein zutiefst musischer Charakter, was in den Porträts seines Malerfreundes Horst Janssen, des Kunsthändlers Hans Pels- Leusden, des Musik- und Theaterkritikers Joachim Kaiser sowie des Schauspielers Henning Schlüter mehr als einmal zutage tritt.
Doch zu Fests Lebensthema wurde Hitler. Mit vielen seiner Weggefährten hat er diesen Stoff geteilt und immer wieder debattiert. Mehr als einer riet ihm ab, als er eine große Hitler-Biografie plante. Golo Mann protestierte immer wieder: Eine gute Biografie müsse „die Fratze dieses A. H.“ unweigerlich schönen, so schrecklich und subaltern, wie diese Gestalt gewesen sei. Doch Fest stellte sich der Herausforderung. Denn in der Frage nach Hitler, so ließe sich Fests geradezu obsessive Beschäftigung mit dem Thema erklären, verbarg sich für ihn das eigentliche Grundproblem der Zeit: Ist Bürgerlichkeit nach der Jahrhundertkatastrophe noch möglich? Wer dies wie Fest bejahen wollte, musste sich an Hitler abarbeiten.
Dass die deutsche Linke bei Fest nicht gut wegkommt, verwundert kaum. Genüsslich zitiert er die Invektiven Dolf Sternbergers oder Johannes Groß’ gegen linke Borniertheiten; die Gegner heißen immer wieder Adorno, Horkheimer und Habermas. Längst vergangene Kämpfe tauchen wieder auf, bei deren Schilderung Affekte des Autors mehr als nur durchscheinen. Wie die „Lumpen“ (Golo Mann) Adorno und Horkheimer die Berufung des Mitemigranten Golo Mann nach Frankfurt durch gezielten Rufmord verhinderten, indem sie ihn bei verschiedenen Instanzen wegen seiner Homosexualität denunzierten, gehört zu den finstersten Intrigenstücken der alten Bundesrepublik, die Fest in Erinnerung ruft. Ein Höhepunkt dieses Buchs ist die Begegnung des Autors mit Rudi Dutschke an der FU 1967: Nach zehn Minuten entzog sich Fest der Predigt des Studentenführers, ein sinnvolles Gespräch war nicht möglich. Tags darauf lachte Ulrike Meinhof über Fests Bericht: Dutschke und er „passten einfach nicht zueinander“. Die Frontlinien waren klar und sind es bei Fest bis heute.
Das konservative Selbstverständnis als „partisan of sinking ships“ (Lord Acton), modern angereichert mit Skepsis, Nonkonformismus und einer Prise Ironie, verkörpert Joachim Fest idealtypisch. Dass das deutsche Bürgertum nach 1945 anders als in den vorherigen Epochen für die Demokratie gewonnen werden konnte, ist eine kaum zu überschätzende Leistung, an der Fest seinen Anteil hat. Diese Veränderung lässt sich auch anhand der ästhetischen Prämissen beschreiben: Für den Bürger waren Thomas Mann und Gottfried Benn keine einander ausschließenden Alternativen mehr wie noch Jahrzehnte zuvor. Sondern er konnte sie, wie es Fest anhand Wolf Jobst Siedlers beschreibt, beide parallel zu seinen Hausgöttern machen.
Joachim Fests bundesrepublikanischer Bilderbogen ist weder Walhalla noch Bestiarium. Vielmehr fügt er sich zu einer „Apologie der Bürgerlichkeit“ (Odo Marquard), einem Epochenbild mit Sinn für Schattierungen, Bizarrerien und Verrücktheiten. Für dieses Bürgertum waren fragmentarische Gestalten in der Gegenwart letztlich humaner als epigonale Ansprüche auf Größe und Bedeutung, die es nur in der Vergangenheit zu finden vermochte. Die bürgerliche Bilanz, die man bei Fest studieren kann, fällt im Vergleich zu früheren Zeiten nicht schlecht aus. Offen bleibt die Frage, was ein konservatives Kaleidoskop in Zukunft bieten mag.
Joachim Fest: „Begegnungen“. Rowohlt, Reinbek 2004, 382 Seiten, 19,90 Euro