: Fluss in Auflösung
Der flimmernde Bildschirm erzählt keine Geschichten, und der letzte Stand der Bildbearbeitung ist immer schon historisch: Das brasilianische Künstlerduo Angela Detanico und Rafael Lain bekam für ein abstraktes Mekong-Delta-Video in diesem Jahr den mit 25.000 Euro dotierten Nam June Paik Award
VON PETER ORTMANN
Auch wenn zeitgenössische Medienkunst allabendlich die Wohnzimmer füllt, autarke Einzelkunstwerke haben es schwer, öffentliches Interesse zu erzeugen. Weder der angekündigte nordrhein-westfälische Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) noch sein Stellvertreter, der Grüne NRW-Kulturminister Michael Vesper, kamen zur hoch dotierten Nam-June-Paik-Preisverleihung. Karstadt und Opel waren wohl wichtiger, und so musste Ilse Brusis, Chefin der Kunststiftung NRW, die immerhin 40.000 Euro auslobte, diese Aufgabe überraschend selbst übernehmen. Sie kämpfte tapfer vor spärlichem Kunstpublikum mit Worten, Werken und Namen und hinterließ die ersten Fingerabdrücke auf dem gläsernen Objekt-Preis, dem der Medienkunstpionier aus Korea seinen Namen vermacht hat.
Erst zum zweiten Mal wird der Nam June Paik Award für Kunst mit elektronischen und digitalen Medien im größten Bundesland vergeben. Er ist der zweithöchst dotierte Medienpreis in Deutschland und soll weltweit renommierte Künstlerinnen und Künstler nach Nordrhein-Westfalen locken und dringend notwendiges Interesse an dieser Kunstsparte wecken. Eigentlich ist es der am höchsten bedachte Preis bundesweit, aber das dürfe niemand sagen, beim Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe ärgerten sie sich sonst. Deren Preisgeld sei zwar niedriger, käme den Künstlern aber jährlich zugute, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Medienkunst bleibt Spartenmarkt, da kann Paiks „Mercury“-Video-Ensemble von 1991 am Eingang der Kunstpreis-Ausstellung blinken wie es will, der nötige Evolutionssprung hat in diesem Jahr weder im oberösterreichischen Linz noch im bundesdeutschen Dortmund stattgefunden.
Das brasilianische KünstlerInnen-Duo Angela Detanico und Rafael Lain hat sich am Mittwoch das 25.000-Euro-Preisgeld für ihr abstraktes Mekong-Delta-Video in die Tasche gesteckt. Weit war der Weg ins vietnamesische Fluss-System. Stundenlang haben sie vom Fluss aus das Ufer abgefilmt. Für das digitale Video wurden Pixel einzelner Bilder in die Horizontale gestreckt. Die Bildpunkte erzeugen nun schmale, bunte Streifen, die die natürliche Farbigkeit der Landschaft, Erdbraun und Flussgelb, zwar digital widerspiegeln, ihre Physiognomie aber auflösen. Ohne Zeit und Raum wandert der Betrachter visuell beschleunigt durch die innere Substanz eines Tages am Delta, akustisch von einer Tonspur begleitet, die in Echtzeit plärrende Musik- und Sprachcollagen eines lokalen Radios transportiert. Der Förderpreis mit 15.000 Euro ging an das deutsch-russische Trio Gleb Choutov, Maja Illic und Maxim Tyminko für ihre Idee einer digitalisierten Operninszenierung. Das Werk revolutioniere das traditionelle Musiktheater in der Produktion, urteilte die Jury.
Der kleinste gemeinsame Nenner bei Medienkunstwerken ist vielleicht die Elektrizität, die alle benötigen. Danach sind die Wege der Visualisierung künstlerischer Ideen zahlreich. Internet, Video, computeranimierte Installationen, Bildschirm oder Laser-Leinwand, Echtzeit oder historische Dokumentation, selbst die körperliche Anwesenheit des Künstlers ist nicht ausgeschlossen. Der Libanese Lucien Samaha harrte während der gesamten Ausstellung der Nominierten in der restaurierten Dortmunder Phoenix-Halle zwischen langsam rostenden Artefakten der ehemaligen Stahlindustrie aus. Auch wegen des High-End-Design-Equipments, das ihm in der Halle zur Verfügung gestellt wurde, wie er lachend zugibt. Persönlich könne er sich das nicht leisten. Samaha arbeitet seit Jahren an seinem digitalen Bilder-Archiv, das er mal in Zeitschriften oder in Online-Portalen präsentiert. Die beiden Japaner Kensuke Sembo und Yae Akaiwa haben ihr technisches Equipment für „exonemo“ wie wilde Tiere in Stahlkäfige gepackt. Drei Beamer und sechs Knöpfe laden zum Video-Hack via Bildmixer ein. Der User als VJ vor einer Videowand, auf der Sequenzen von Found Footage, Archivbildern und Live-Aufnahmen langsam oder irrwitzig schnell über die weiße Fläche zucken, je nachdem, wie gewagt die Knöpfe des Turntable bewegt werden. Soundkünstler FM Einheit fand’s bei der Preisverleihung jedenfalls witzig, doch jede Netzhaut sehnt sich schnell nach Ruhe. Medienkunst bleibt unauffällig zweidimensional. Mag das technische Equipment auch umfangreicher werden, Bedienungskonsolen üppiger und die Installation komplizierter, am Ende steht der flimmernde Bildschirm, und der erzählt meist keine Geschichten. Er zeigt den letzten Stand der Bildbearbeitung in der Jetztzeit, und die ist während des Betrachtens bereits technische Geschichte.
„Die Kunst verschwindet“, hieß ein kunsttheoretischer Ansatz des verstorbenen Kritikers Max M. Faust bereits vor zehn Jahren, in der artifiziellen Medienwelt ist sie nur noch marginal vorhanden, auch wenn sich zeitgenössische Kunstschauen und Museumsausstellungen mehr und mehr mit Medientechnik durchweben. Die wirklichen künstlerischen Innovationen finden auf den kommerziellen Pop-Sektoren statt.