: Das Unglück der Autisten
Bombenlegen in der Sprache: Der Autor Tom Peuckert dringt tief in die Erschütterungen der Zeitgeschichte und manchmal auch nur ganz nahe unter die Oberfläche der Medien, um beides für das Theater hervorzubringen
Es ist nicht einfach, Tom Peuckert zu treffen. Er ist kein Mann der Technik, seine Mailbox hört er selten ab, er wandert lieber im Erzgebirge. Ein Intellektueller mit scharf geschnittenem Gesicht, Adlernase und weißem Hemd, wie aus einer anderen Zeit gesprungen. Irgendwann treffen wir uns aber doch, auf einer stillen Bierbank im Volkspark Friedrichshain. Hierher kommt Peuckert zum Arbeiten, wenn er nicht gerade schreibt – oder beim Wandern seine Stücke denkt. Zu Hause sind die Kinder, drei und dreizehn Jahre alt, und weil seine Tochter heute Geburtstag hat, muss er bald wieder weg.
Tom Peuckert, der bis vor kurzem sein Geld mit Fernsehkritiken verdiente, ist als Bühnenautor zunehmend gefragt – soeben hatte in Freiburg sein viertes Stück „Dionysos Deutschland“ Uraufführung, in Bielefeld wird im Januar das Auftragswerk „Luhmann“ gegeben. Und obwohl man sich manchmal fragt, wie lange die Nachwelt sein dialogarmes und kantiges Textflächentheater spielen wird, ist da trotzdem eine neue Stimme aufgetaucht: ein Autor, der sich mit Zeitgeschichte beschäftigt, der tief in ihre Erschütterungen eindringt und sie fürs Theater wieder hervorbringt.
Aufgewachsen in Leipzig, studierte Peuckert Theaterwissenschaften und dachte eigentlich, er würde ein Theaterleben als Dramaturg und Regisseur beginnen. Doch dann kam der Mauerfall, mitten in seine Inszenierung von „Hedda Gabler“. Zwar wurde aus seiner „Hedda“ noch eine verwirrte Wende-Revue, aber danach war für ihn erst mal kein Theater mehr möglich, „die geistige Basis war verschwunden“. Er wurde also zunächst Journalist, bis die Kunst wieder rief, in zweierlei Form: Peuckert begann, Radiohörspiele und Theaterstücke zu schreiben. Wenn man sie miteinander vergleicht, glaubt man kaum, dass es derselbe Autor ist: dialoghaltig und schnell sind seine Kriminalsatiren, erdenschwer, konzentriert und monologisch seine Stücke.
Peuckerts erstes Stück war „Artaud erinnert sich an Hitler und das Romanische Café“, das von Martin Wuttke nach Jahren immer noch im Berliner Ensemble gespielt wird. Artaud, der hellsichtig Wahnsinnige, wird geschüttelt von eruptiven Wutattacken auf die Kunst und fantasiert von einer fiktiven Begegnung mit Hitler in Berlin, bewundert den umgekehrten Bruder im Geiste, dessen „strahlenden Mörderkörper“, und unter der manierierten Sprache liegt extreme Komik.
Peuckerts zweites Stück, „Kaspar Hauser Bombe“, wurde vor zwei Jahren am Theater Freiburg uraufgeführt: Ein Komiker, Harald Schmidt, und ein Politiker, Joschka Fischer, lassen sich über die westliche Medienwelt aus, die sie selbst hervorgebracht hat – bis der Komiker beide in die Luft sprengt. Angewidert vom eigenen Weltekel, entzieht er sich dem medialen Hysterie- und Vergnügungssystem – oder, wie Peuckert einfach mal so im Gespräch dahinsagen kann: „Kopftheater in einer Luxuskabine des Schnelldampfers namens ‚Western World‘.“
Ohnehin ist Weltekel ein Wort, das damals in fast jeder Kritik fiel. Doch Tom Peuckert ist niemand, der seine persönliche Befindlichkeit in die Welt schleudern wollte. Er würde sich das niemals anmaßen, dazu wirkt er zu selbstkritisch und bescheiden. „Kaspar Hauser Bombe“ würde er heute anders schreiben, mehr als zwei Stimmen in einem einzigen Kopf, und dass er für das Theater keine Dialoge schreibt, empfindet er als Mangel. Am liebsten würde er einmal ein „well made play“ hinbekommen, mit all der gedanklichen Tiefe, die Theater erfordert. Doch da er im Theater eher an Autisten als an Menschen glaubt, die noch etwas verhandeln könnten, wird das wohl noch dauern.
In „Dionysos Deutschland“ kann man keinen Weltekel finden, eher Welttrauer. In drei inneren Monologen verbindet es drei Ereignisse der jüngsten Zeitgeschichte: Da spricht die Geisel von Gladbeck, der Amokläufer von Erfurt – und jener pensionierte Beamte, der sich auf unschuldiger Wanderung durch Deutschland befand, als ein eifriger Polizist ihn für den Mörder Zurwehme hielt und durch die Tür seines Hotelzimmers erschoss. Drei faits divers mit tragischem Ausgang: Peuckert versetzt sich tief hinein in das Gedankenrasen der Todgeweihten, und das Dionysische, was sie zusammenhält, ist für ihn das „blindwütig Zufällige“ und irrational Chaotische, welches plötzlich und grundlos in westliches, wohl geordnetes Leben einbrechen kann.
Überhaupt sind der Ausgangspunkt seiner Stücke immer eigene Erschütterungen. Er glaubt an den Ibsen-Satz: „Dichten ist Gerichtstag halten über sich selbst.“ Er kann nicht „mehr erzählen, als in meinem Kopf passiert“. Das könnte man als anmaßend empfinden – etwa, wenn der Amokläufer von Erfurt über seinen unerreichbaren, durch die Wende verlorenen Vater sinniert und so das Massaker psychologisch begründet oder der Pensionär auf Selbstfindung sich im Kopf Lebensregeln aufstellt. Tatsächlich ist es aber auch anrührend. Man nimmt Peuckert das Selbstempfundene ab, und wenn die Geisel schreit: „Warum sind wir nicht Brüder, die im Schmerz vereint seit Anbeginn das Elend unsrer Körper teilen?“, erahnt man, dass sein Anliegen etwas mit Sehnsucht zu tun hat. Seine Sprache bewegt sich zwischen Pathos und kurzen, glasklaren und manchmal funkelnden Sätzen: „Heute mach ich uns berühmt / die Handys werden unsere Namen senden / er hat das letzte Tor gesprengt.“ Das ist beeindruckend, denn nichts könnte schiefer gehen, als längst abgelegte „Tagesschau“-Sensationen für das Theater fruchtbar zu machen und mit einer Zeitgeschichte zu lavieren, die für eine Poetisierung nicht weit weg genug erscheint.
DOROTHEA MARCUS