: Haben Lügen kurze Haare?
Kritiker halten Dietmar Beiersdorfer für einen „Lügner“, „Mörder“ und ein Symbol der „Lug-und-Trug-Liga“. Der Ex-Profi musste erst Sportchef beim Bundesligisten Hamburger SV werden, um zu erkennen: Die Wahrheit liegt vielleicht auf dem Platz – jenseits des Platzes ist dafür kein Platz
aus Hamburg OKE GÖTTLICH
Die stille Post ist angekommen. „Lügner“ schmettern Deutschlands schrillste Medienhörner, und zwischen dem, was sich beim Trainerwechsel des HSV wirklich abspielte und später daraus wurde, versucht der für den Sportbereich Verantwortliche, Dietmar Beiersdorfer, sein Gesicht zu wahren. Obwohl Beiersdorfer schnell gelernt hat, sich nicht auf „ein Gesicht“ festlegen zu lassen. Weder ist er plötzlich die im Boulevard gezeichnete Fratze des Fußballgeschäfts, noch will er sich trotz seines Beitrages in dem Werk „Fußball und Rassismus“ als bücherschreibender Vorzeige-Linker beim Hamburger Großclub verstanden wissen.
Nach seinem Wirtschaftstudium könnte er den New-Economy-Fußballer zwischen lauter konservativen Do-it-yourself-Managern verkörpern. Aber er steuert schnell dagegen, wenn er in eine Schublade gesteckt werden soll. Beobachtern entgeht dennoch nicht, wie schwer ihn die Kritik an seinem Handeln trifft. Flüsterte er zunächst „kein Trainerwechsel“ in kleiner Runde, wurde bereits im eigenen HSV-Vorstand das „kein“ durch „ein“ ersetzt. Die stille Post lief weiter, bis es öffentlich „Lügner“ hieß und Klaus Toppmöller das Training leitete.
Überrascht wurden sowohl Beiersdorfer als auch sein Verein von den eigenen Visionen: die nämlich setzte sein Chef, der Vorstandsvorsitzende Bernd Hoffmann, nach dem 0:4 in Kaiserslautern schneller um, als Beiersdorfer lieb war.
Kaum ein Kollege hätte es wohl für nötig gehalten, selbst ins Auto zu steigen, um den gerade entlassenen Trainer Auge in Auge von der plötzlichen Entscheidung zu informieren. Eine Selbstverständlichkeit hingegen für Beiersdorfer, der den Vorwurf der Lüge durch eine vorzeitige Aufklärung Kurt Jaras über die neue Trainersuche entkräften kann und „Persönlichkeit, Charisma, Menschenverstand, Offenheit und Toleranz“ als Erfolgsrezepte für ein modern geführtes Fußballunternehmen bezeichnet.
So stockt die Stimme, und die Worte, die sich um den Kloß im Hals in Richtung Mikrofon zwängen, deuten die Betroffenheit auch über das eigene Handeln während der Vorstellung Toppmöllers nicht nur an.
Für den misslungenen Ablauf hat sich der Sportchef bei Kurt Jara und dem Team entschuldigt. Anders als viele Kollegen hat er das Spiel der selbstsicheren Außendarstellung noch nicht perfektioniert – auch wenn Kritiker behaupten, ein richtiger Sportchef in einem richtigen Fußballunternehmen habe dieses Spiel zu beherrschen.
Gleichwohl ist ihm klar, „dass das Bild nach außen schlecht ist“. Zwischen dem sieglosen Debüt Toppmöllers, dem Weiterkommen im DFB-Pokal gegen Unterhaching und dem kommenden Spiel in Dortmund (So., 17.30 Uhr) muss Beiersdorfer nun versuchen, das gestörte Verhältnis zum Team wieder aufzubauen und Bruchstellen zu kitten: gerade jetzt, da der Vorstandsvorsitzende Hoffmann die Prämien der Spieler gekürzt hat und der Vorstand trotz finanzieller Krise (13. Tabellenplatz) mit David Jarolim einen neuen Spieler für eine Million Euro verpflichtet hat.
„Natürlich ist das alles unangenehm. Vor allem, wenn man weiß, dass man ein anderes Selbstverständnis von sich hat.“ Er gibt zu verstehen, die Kritik an der eigenen Person durchaus nachvollziehen zu können. Allerdings, ohne dabei die branchenübliche Gleichgültigkeit an den Tag zu legen.
Eine besondere Skrupellosigkeit, wie sie Beiersdorfer nun angehängt wird, ist dem Menschen keineswegs anzukreiden. Vielmehr musste er als Branchen-Neuling erste Erfahrung in Sachen Trainerentlassung sammeln – ein Unterfangen, das nie ohne Stöhrgeräusche abläuft, auch bei anderen Vereinen nicht.
Weshalb Beiersdorfer sich am Tag der Demission Jaras um seine elfjährige Tochter kümmerte? Um ihr die wüsten Beschimpfungen seitens der Medien, die vorher keinen Krümel vom Infokuchen abbekamen, zu erklären! Da habe er gemerkt, wie schnell man in der Öffentlichkeit in die Schussbahn gerät. „Wenn Lügen kurze Beine haben“, wütete die Bild-Zeitung, „gehen Beiersdorfer und Hoffmann ab sofort direkt auf den Knien.“ Die Fans schrieben: „Schämt euch, ihr Lügner.“
Beschuldigungen, die den auf Harmonie bedachten Jungsportchef mit voller Wucht treffen, da sie seine Arbeit der vergangenen 15 Monate in Frage stellen. Beiersdorfer war es, der die Identifikationsprämie für Fußballprofis einführte, die sechs Prozent des Grundgehaltes ausmacht. Sein fester Glaube an ein verschworenes, fest gefügtes Team ist nur der Anfang seiner Vision von einer „Vereinskultur“, in deren Mitte die HSV-Raute steht.
Das eigentliche Team, welches sich jüngst in dem italienischen Brauch des „silenzio stampa“ (dem Schweigen gegenüber der Presse als Protest gegen die Clubführung) übt, ist dennoch zerrissener denn je. „Ich weiß, wer ich bin“, sagt Beiersdorfer überzeugt und weiß, dass es das Team und die Öffentlichkeit nun aufs Neue davon zu überzeugen gilt.
In Kürze muss der Vorstand beim Aufsichtsrat Rechenschaft über die bedrohliche finanzielle Lage (ein Minus von 14 Millionen Euro im Etat) und das vom Fachblatt kicker als „Münchhausen-Festival“ bezeichnete Entlassungswirrwar ablegen.
Da fehlt nur noch, dass sich Beiersdorfer neben einer intern nie geäußerten Unwahrheit nun für seinen Wohnort in der Nähe des Lokalkonkurrenten rechtfertigen müsste – oder er mit dem Vorwurf konfrontiert würde, dass Lügen kurze Haare hätten.
Als er vom Aufsichtsratsvorsitzenden Udo Bandow eingestellt wurde, sorgte er beim verschnarchten Bundesliga-Dinosaurier HSV mit bislang nie erlebten Power-Point-Präsentationen und langen Haaren für frischen Wind.
Dem letzten Ärgernis beugt er schon mal auf natürlichem Weg vor. Die Haare wachsen wieder über die Ohren. „Ich bin ein bisschen abergläubisch“, verriet Beiersdorfer der Morgenpost. Die stille Post ist abgeschickt.